Gutzkow lesen

Die kommentierte digitale Gesamtausgabe auf CD-Rom

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man mag sich "die Augen reiben", wie die Herausgeber Martina Lauster und Gert Vonhoff ihrem Band stolz voranschicken: Die an Umfang kaum zu überbietenden Werke des lange Zeit als "Vielschreiber" abgetanen Karl Gutzkow, zuletzt zum größten Teil selbst für Literaturwissenschaftler höchstens noch in Lesesälen zugänglich, werden endlich von Grund auf neu ediert. Überzeugend wird im nun vorliegenden Eröffnungsband dargelegt, was das besondere dieses Projektes ist. Es soll eine edition in progress werden, die gerade durch die Offenheit ihrer Arbeitsmaximen besticht und erwarten läßt, daß die Zeit endlich für Gutzkow zu arbeiten beginnt, wo sie doch bisher immer gegen ihn war: Gutzkow blieb (auch zu Lebzeiten) vollkommen unterschätzt und war fortan ein Opfer der an kulturpolitischen und nationalen Vorurteilen klebenden Literaturgeschichtsschreibung, die ihn rigoros aus dem Kanon verbannte. Tatsächlich leistete er aber Bahnbrechendes bei der Erschließung neuer Prosaformen innerhalb eines literarischen Realismus, der der explosiven Industrialisierung, den Debatten um die aufkommende soziale Frage, den Nationalismus und den europäischen Materialismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch gerecht werden konnte. "Die häufig gestellte Frage, ob es sich überhaupt lohne, Gutzkow zu lesen, läßt sich indes wohl am besten mit der Gegenfrage beantworten, wie genau man denn das 19. Jahrhundert zu kennen wünsche." (Vonhoff)

Drei exklusiv im vorliegenden Band zu lesende Aufsätze stellen das Vorhaben detailliert vor: Mit allen derzeit der Texterschließung zu Gebote stehenden Medien versucht das mittlerweile über einen festen internationalen Herausgeber- und Editorenstamm verfügende Projekt, das erstaunlicherweise bislang vollkommen ohne öffentliche Förderungsmittel ausgekommen ist, sämtliche Werke Gutzkows für einen möglichst breiten Leserkreis neu zu kommentieren. Im Internet besteht dazu für den fachkundigen Leser die Möglichkeit, seine Fragen oder Erkenntnisse in den wachsenden und ständig überarbeiteten Kommentarpool einzubringen, der so - neben einer schnellen und effizienten Verfügbarmachung der Texte im Netz, auf CD-Rom und in Form gebundener Bücher - immer umfangreicher und leistungsstärker werden wird. Da die Projektleiter in der Planung ihres Vorhabens begrüßenswerte Umsicht bewiesen haben, ist zu erwarten, dass die Entwicklungen im Bereich der Textverarbeitungssoftware der Erschließung der Werke Gutzkows zugute kommen werden. Anders als andere vergleichbare Vorhaben (wie z. B. die laufende digitale Edition der Werke Thomas Manns) vermeiden es nämlich die Herausgeber, aufwendige Vorarbeiten zu leisten, die womöglich durch die voranschreitenden Digitalisierungs- und Datenvernetzungsmethoden (z. B. für Suchfunktionen oder Textvergleiche verschiedener Ausgaben) bald obsolet werden könnten. Stattdessen präsentiert der vorliegende Band den beeindruckenden Stand der Arbeit, der durch die effiziente Konzentration auf das zunächst Wesentliche für sich spricht: Die schnellstmögliche Zugänglichmachung der historischen Erstausgaben und ihre akribische Kommentierung in progress. Für das innovative Projekt spricht zudem, dass es so viele neue Fragen wie möglich aufwerfen will, um sie mit der Zeit zu lösen, anstatt sie diplomatisch zu umschiffen, nur weil sie im Moment womöglich rätselhaft erscheinen. Gerade die Nutzung des digitalen Mediums wird es hier möglich machen, effektiv zu sammeln, anstatt - wie bisher notgedrungen bei vergleichbaren Projekten üblich - frühzeitig die Akten zu schließen. So ensteht etwa ein von Christine Haug und Ute Schneider (Mainz) vorgestelltes "Gutzkow-Lexikon", das zum grundlegenden Verständnis der Werke unerläßliche Informationen bündeln und den direkt textbezogenen Anmerkungsapparat entlasten soll; Wolfgang Rasch (Berlin) skizziert die Möglichkeit einer Gutzkow-Briefdatenbank im Netz. Neben der Präsentation des komplexen Projektes enthält der vorliegende Band verschiedene Arbeitsproben aus bereits bearbeiteten Werken Gutzkows, die ausgewiesene Wissenschaftler ediert und kommentiert haben. Die beiliegende (mit dem derzeitigen Inhalt der Internetseite identische, übersichtlich strukturierte) CD-Rom präsentiert u.a. Gutzkows Spätwerk "Die neuen Serapionsbrüder" (1877), herausgegeben vom kunsthistorisch und theaterwissenschaftlich ausgewiesenen Arno-Schmidt-Kenner Kurt Jauslin. Diese Edition wird voraussichtlich noch in diesem April in Buchform erscheinen. Bis zum Abschluss der Gesamtausgabe werden wohl aufgrund der Masse des Materials noch Jahrzehnte vergehen: Allein die Edition der ca. 8.000 erhaltenen Briefe Gutzkows bleibt ein "Projekt im Projekt" (Rasch). Aber schon jetzt lässt sich anhand des vorliegenden Eröffnungsbandes absehen, dass die wichtigsten Texte Gutzkows wieder mit Gewalt ins Bewusstsein nicht nur der Literaturwissenschaftler drängen: Man wird sie diskutieren und lesen, um endlich die "weißen Flecken auf der bewusstseins- und kulturgeschichtlichen Landkarte der Jahrzehnte von 1830 bis 1880 [...] zu beseitigen." (Vonhoff) Doch auch der reine Lesespaß kommt bei Gutzkow selten zu kurz, weswegen selbst Lesern, die ganz einfach noch eine intelligente Urlaubslektüre für die nächsten Ferien suchen, die folgenden Gutzkow-Werkausgaben im Oktober Verlag dringendst ans Herz gelegt werden müssen.

Titelbild

Gert Vonhoff / Martina Lauster (Hg.): Gutzkows Werke und Briefe. Kommentierte digitale Ausgabe. Eröffnungsband.
Oktober Verlag, Münster 2001.
400 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3935792603

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch