Zugvögel wir

Jüdische Literatur aus der Schweiz

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band vermittelt einen kleinen Einblick in das Schaffen jüdischer Schriftsteller in der Schweiz. Sein Titel weist darauf hin, wie Hermann Levin Goldschmidt anmerkt, dass man sich sowohl "der übrigen Weltjudenheit gegenüber in einer eigenen, der schweizerischen Lage," befinde als "auch gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen der Schweiz. Nur auf der Grundlage dieser zweifachen Eigenheit sind die Fragen der jüdischen Kulturarbeit in der Schweiz sachgerecht aufzurollen: ihre eigentlichen Schwierigkeiten festzuhalten (und) ihre besonderen Leistungen hervorzuheben."

Achtzehn jüdische Autorinnen und Autoren - die, abgesehen von Luc Bondy und Daniel Ganzfried in der hiesigen Literaturszene weitgehend unbekannt sein dürften - setzen sich mit der Gegenwart und mehr noch mit der Vergangenheit, insbesondere der nationalsozialistischen, auseinander und deren Auswirkungen auf das Heute. Viele Texte wurden schon anderweitig veröffentlicht. Ob man gut beraten war, sich bei den meisten Texten mit Auszügen aus Romanen zu begnügen, sei dahingestellt, zumindest bleiben dadurch manche Zusammenhänge im Dunkeln wie etwa bei "Le Feu au lac" von Jean-Luc Benoziglio und "Der Absender" von Daniel Ganzfried, der vor einigen Jahren durch die Artikelserie zum "Fall Wilkomirski" von sich reden machte.

Die in Russland geborene und in Berlin und Lausanne aufgewachsene Autorin Rose Choron berichtet in kurzen Absätzen, wie ihre Familie zur Hitler-Zeit Berlin verließ und nach Lausanne zog, wo sie sich später darum bemühte, anderen illegal eingereisten Flüchtlingen zu helfen.

Selbst den nach 1945 Geborenen gelingt es durchaus, die schlimmen und beklemmenden Jahre der Nazizeit heraufzubeschwören mit all ihren negativen Begleiterscheinungen wie Unsicherheit, Flucht, Angst, die bei Kindern und Jugendlichen gelegentlich in Abenteuerlust ausartete.

Roman Buxbaums Albträume handeln von Konzentrationslagern. Charles Lewinsky stellt sich "Hitler auf dem Rütli" vor.

Spannend und ergreifend erzählt Marta Rubinstein von einem polnischen Schneider, der an Schwindsucht leidet. Doch ein Pogrom kommt dem Tod durch Schwindsucht zuvor und rafft auch seine Familie hinweg. Nur der älteste Sohn überlebt das Massaker. Ihm gelingt die Rückkehr in ein halbwegs normales und erfolgreiches Leben, bis die Nazis kommen und seine Frau und Kinder ermorden. Es bleibt ihm nur noch die Auswanderung nach Palästina: Nur "fort aus dem barbarischen Europa". Mit seiner alten Nähmaschine macht er sich auf den Weg.

Nicht jede Geschichte überzeugt durch literarische Qualität wie etwa die kleine Skizze des bekannten Theaterregisseurs Luc Bondy über seine Großmutter. Gabriele Markus hat einige Gedichte beigesteuert und einen Text über ihre Kindheit unter dem Titel "Zugvögel wir".

Sylviane Roches Erzählerin berichtet von ihrem 75. Geburtstag und hält kurze Rückschau auf ihr Leben. Sergueï Hazanov erklärt Freunden die Schweiz. Shelley Kästners Theaterstück über "Antisemitismus oder die Lust, gemein zu sein" wurde in den Band mit aufgenommen, ebenso ein Text von Miriam Cahn, der Bestandteil einer Perfomance war, und ein Auszug von Stina Werenfels' Drehbuch zum Film "Pastry, Pain & Politics". Marianne Weisberg schildert in der etwas schrillen Story "Männerjagd oder Lili und die Schmocks" ein vermeintlich trautes tête-à-tête, das damit endet, dass er sie mit "du freche Jüdinnenfotze" beschimpft und sie ihm "blöder Nazi" nachruft.

Bei aller Verschiedenheit gibt es in dem bunten Kaleidoskop der hier präsentierten Geschichten durchaus gemeinsame Themen. Einige sehen in der Schweiz eine Art Utopie, ein Land, in dem, wie der Herausgeber Rafaël Newman schreibt, "Milch und Honig fließen". Dann wiederum bietet sich die Schweiz der literarischen Vorstellungskraft als eine Gegenwelt dar, als ein "Unort". In anderen Geschichten taucht Israel auf, sowohl das altehrwürdige biblische als auch das zionistische der Neuzeit sowie jüdische Bräuche und Riten - noch nicht einmal ein Telegramm durfte am Schabbes aufgemacht werden - und symbolträchtige Schauplätze des Holocaust.

Die Weltsicht der Schweiz habe seit Beginn der Moderne auf Juden eine große Anziehung ausgeübt, betont Rafaël Newman in seinem breit angelegten Nachwort, in dem er sowohl auf historische als auch auf literarische Probleme und Entwicklungen eingeht. Juden sahen, so Newman, in der Schweiz ein nachahmenswertes Modell eines kleinen, modernen, demokratischen Staates. Vor allem ihre Armee habe dem 1948 gegründeten Staat Israel als Vorbild gedient. Die Schweiz hingegen habe diese Liebe nicht gerade erwidert. Sie habe Juden "bestenfalls toleriert, schlimmstenfalls mit Misstrauen betrachtet."

Titelbild

Rafael Newman: Zweifache Eigenheit. Neuere jüdische Literatur in der Schweiz.
Limmat Verlag, Zürich 2001.
262 Seiten, 24,54 EUR.
ISBN-10: 3857913711

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