Halbierter Schwanitz

Wo bitteschön bleiben die Naturwissenschaften? Ernst Peter Fischer will den Bildungskanon verdoppeln

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Diskussion über den Inhalt und Umfang des Bildungskanons und das, was unter diesem Begriff zu verstehen sei, hat Konjunktur. Friedrich Schwanitz' umstrittenes Kompendium "Bildung - alles, was man wissen muß" (1999), der von der Schwanitz-Schülerin Christiane Zschirnt verfasste Ratgeber "Bücher - alles was man lesen muß" (2002) oder die einschüchternde, von den Bildungsbeflissenen in jahrelanger tätiger Reue abzuarbeitende Leseliste Marcel Reich-Ranickis ("Der Spiegel", Nr.25/2001) sind nur Symptome dieser Ratlosigkeit. In der Sendung "Reich-Ranicki Solo" vom 2. März besann sich der deutsche Literaturpapst offenbar noch einmal auf die Bußfertigkeit seiner Leser und Zuschauer und kündigte an, eine weitere Kanonbibliothek mit literarischen Werken zu erstellen, deren Lektüre nun wirklich unverzichtbar sei. Auch die "Kurze Geschichte der deutschen Literatur" (2002) des Stuttgarter Literaturwissenschaftlers Heinz Schlaffer greift als eine Art 'Negativ-Kanon' in diesen Diskurs ein, da sie nach Beschreibungskriterien einer 'deutschen' Nationalliteratur fragt und Literaturgeschichte rigoros zum "Zusammenhang der im literarischen Gedächtnis lebendigen Werke" zusammen streicht.

Im Streit um den Kanon wird nicht selten übersehen, dass die Kanonbildung ihrerseits ein bestimmtes Antwortverhalten auf den Verlust gesellschaftlicher Orientierungsvorgaben dokumentiert. So scheint sich der Wunsch nach einem fest umrissenen Bestand von Bildungsinhalten vor allem in Zeiten akuter Sinndefizite einzustellen: "Der Verbindlichkeit und Stabilität eines materialen Kanons steht [...] nach der Ablösung des religiösen Kanons durch den literarischen des Bildungsbürgertums ein hohes Maß an Instabilität der Auslegungen gegenüber. [...] Erst mit den sozialen Bewegungen der sechziger Jahre wurde der Kanon in dieser Funktion entmystifiziert und unter Berufung auf heterogene Identitäten unterschiedlicher sozialer Gruppen nachhaltig in Frage gestellt. In den Kontexten der deutschen Einheit wiederum sind verstärkte Anstrengungen zu beobachten, tradierte Formen der Kanonbildung zu restaurieren." (Thomas Anz) Selbst die Kanon-Forschung ist in die normativen Debatten verstrickt, die sie analysiert, und muss sich ihre Bedingheit durch aktuelle Werthaltungen 'herausragender', 'unsterblicher', 'mustergültiger' oder 'klassischer' Werke immer wieder bewusst machen.

Darauf, dass der im öffentlichen Bewusstsein namentlich von der Belletristik, vielleicht noch von der Geschichte und der Philosophie besetzte Bildungsbegriff möglicherweise zu kurz greift, weist nun ein Buch Ernst Peter Fischers hin. Fischers "Die andere Bildung - was man von den Naturwissenschaften wissen sollte" formuliert eine Versäumnisanzeige. Der an der Universität Konstanz lehrende Wissenschaftshistoriker will vor allem einen blinden Fleck im Sehschlitz des ehemaligen Anglistikprofessors Schwanitz beseitigen helfen, dessen Bildungs-Wälzer die 'harten' zugunsten der 'weichen' Wissenschaften über Gebühr vernachlässigt. Man wird Fischers Befund einer grundlegenden Asymmetrie in der Bewertung der Wissensfelder beipflichten müssen: Wer Shakespeare nicht kennt, gilt als Banause und Einfaltspinsel, wer Ludwig Boltzmann dagegen nicht unterzubringen weiß, muss sich nicht unbedingt als Ungebildeter fühlen. Für Fischer, dessen Buch der Entwicklung der modernen Wissenschaft angefangen bei Kopernikus und Kepler über Bacon, die Alchemie und Astologie, Einstein, die Quantenmechanik bis hin zur Evolutionstheorie und deren Kritikern nachspürt, liegen die Dinge freilich etwas anders.

Der Autor benötigt gerade einmal zwei Seiten, um Schwanitz eine "bezeichnende Ahnungslosigkeit" in den Angelegenheiten der Naturwissenschaften nachzuweisen. In der Tat: Als "entscheidende Pointe" der Einsteinschen Relativitätstheorie wird man auch ohne akademische Wichtigtuerei die Formel "Alles ist irgendwie relativ" nicht gelten lassen können. Ein beredtes Beispiel. Wenn die Arbeit am Bildungskanon, gerade die populäre, nur die Angelegenheit einiger weniger Protagonisten ist, dann bildet deren zwangsläufig begrenzter Kenntnisstand und mitunter sehr spezielle intellektuelle Sozialisation die Grenze allen Wissens. Aus einem fachwissenschaftlich vorstrukturierten und immer auch individuell gefärbten "Was ich weiß" wird durch beherzte Universalisierung ein vollmundiges "Was man wissen muß". Nun ist aber weder die Literaturwissenschaft bzw. Literaturkritik verantwortlich für die Bildung insgesamt, noch sind bestimmte Gewährsmänner dieser Disziplinen (wie etwa die bekannten Vorlieben und Ideosynkrasien MR-Rs dokumentieren mögen) verantwortlich für die Literatur als Ganze. Öffentliche Kanonbildung ist heutzutage offenbar immer auch mitbestimmt durch die Gesetze ihrer medialen Inszenierung und Monopolisierung.

Es ist bedauerlich, dass Fischer auf so gut wie jede Ursachenforschung für unsere schöngeistig halbierte Bildung verzichtet. Welche Gründe hat die heutige Geringschätzung der Erfahrungswissenschaften, die ja - man denke nur an die Bedeutung von Kopernikus für die transzendentalistische Wende in der Erkenntnistheorie oder die Rolle der Newtonschen Physik für das deistische Weltbild der Aufklärung - über einen großen Zeitraum ihrer Geschichte die Funktion einer Leitdisziplin übernommen hatten? Dies hat vor allem mit der "Entmoralisierung" (Wolf Lepenies) der Naturwissenschaften an der Wende zum 19. Jahrhundert und der Abkoppelung normativer Fragestellungen von einer nunmehr nur noch auf den Umgang mit empirischen Daten und auf interne Strategien der Problemerzeugung und -bewältigung beschränkten Disziplin zu tun. Diese Entwicklung erfasste auch die Human- und Sozialwissenschaften: Wie die Ökonomie nicht mehr die guten oder schlechten Handlungen des Menschen analysiert, sondern das für ihn vorteilhafte oder unvorteilhafte Verhalten, so musste die Völkerkunde die Bilder vom guten oder bösen Wilden verabschieden, um den 'objektiven' Rang von Stämmen, Völkern und Nationen auf einer Entwicklungsskala bestimmen zu können.

Die 'entmoralisierten', für das soziale Leben und normative Orientierungen weitgehend untauglich gewordenen Naturwissenschaften - hier meldet sich Fischer zu Wort - entbehren zudem jeder lustvollen Erlebnisqualität. Auf welche Weise kann man experimentell geregelte, oft nur in spezialausgerüsteten Laboratorien praktizierte und ihre Ergebnisse in speziellen Zeichensystemen formulierende Wissenschaften intellektuell erfahrbar und hedonistisch verwertbar machen? Während die eine Textgestalt des literarischen Erzeugnisses ja sowohl dem Gelegenheitsleser als auch dem professionellen Literaturverwerter zu denken gibt, bedürfen die empirischen Wissenschaften zusätzlicher Vermittlungsinstanzen. Hierzulande, meint Fischer zu Recht, könne von einem 'public understanding of sciences' kaum die Rede sein, weshalb er in seinem Ausblick "Wissenschaft als Kunst denken" sehr überzeugend für eine ästhetische Übersetzung unverständlicher wissenschaftlicher Darstellungen plädiert. Wenn, worüber etwa der Blick auf Knut Radbruchs Studie "Mathematische Spuren in der Literatur" (1997) belehrt, die Kunst der Wissenschaft seit langem ein Gastrecht gewährt, ist nun für die Wissenschaft die Zeit gekommen, eine Gegeneinladung auszusprechen.

Wichtiger als die Dignose solcher Vermittlungsdefizite aber wäre freilich der Nachweis, dass die Errungenschaften der Naturwissenschaft Teil des Bildungskanons sein müssen, weil sie uns im emphatischen Sinne des Wortes wirklich etwas 'angehen', weil sie uns helfen, die Welt und unsere Stellung in ihr besser zu verstehen. Aber genau dieser Behauptung haben wissenschaftskritische Stimmen vehement widersprochen.

So hat etwa Jürgen Dahl, der kürzlich verstorbene Herausgeber der "Scheidewege", in "Der Tag des Astronomen ist die Nacht" (2000) für die Himmelskunde dargelegt, was man mutatis mutandis auch für andere Naturwissenschaften behaupten könnte. Die heutige Astronomie, sagt Dahl, hat ihre sozial integrierende Funktion verloren. Was die Astronomie in seinen Augen so fragwürdig macht, ist ihre Abkoppelung von den Funktionen des Lebens, ihre durch die Beschäftigung mit fernen Welten erzeugte Weltferne. An die Stelle der anschaulichen und 'begreiflichen' Phänomene sind die Schimären einer apparativen Wahrnehmung getreten, die jeden Bezug zu den Kategorien menschlichen Denkens und Erlebens vermissen lässt. Diese mit einem ständig wachsenden Arsenal von Radioteleskopen, Spektographen, Photometern und Strahlungsdetektoren ausgestattete Wissenschaft exemplifiziert mit anderen Worten ihre eigene Vergeblichkeit fortlaufend an sich selbst. So gilt ihr Interesse doch keineswegs mehr dem unsere Köpfe überspannenden Himmelszelt, sondern einem gefilterten, verrechneten und unter gröblicher Mißachtung der raum-zeitlichen Spezifika der einzelnen Sterne, ihrer Entwicklungsstadien und Bewegungen auf eine Fotoplatte gebanntem Etwas. In der Tat stehen wir Erdenbewohner den beständig revidierten Nachrichten über das Zustandekommen schwarzer Löcher, die Existenz von Radiogalaxien und die Zukunft unseres Lebenssterns einigermaßen gleichgültig gegenüber.

Qualitativ andere Ergebnisse als die von Dahl angeprangerten kann Fischer allerdings nur in Teilen seines Buchs präsentieren. In den einleitenden Kapiteln finden sich, außer den erwähnten Mängelanzeigen, keine wirklichen Argumente für eine Einbeziehung der Naturwissenschaften in den Bildungskanon, die Ansätze zu einem Konzept einer "doppelten Bildung" bleiben merkwürdig inhaltsleer. Heinrich von Ofterdingen, Döblin und Jürgen Habermas nehmen der Wissenschaft bzw. der mathematischen Form ihrer Aussagen gegenüber eine skeptische Haltung ein - das muss aber keineswegs bedeuten, dass solche Skepsis nicht gerechtfertigt wäre. Wenn doch, dann nur aus einem Gestus der Kränkung heraus. Fischer macht sich die Sache zu einfach, wenn er das Heil der exakten Wissenschaften in einer Art dualistischer Anthropologie sucht: "Tatsächlich leben Menschen in zwei unterschiedlichen Welten, zwischen denen sie mühelos wechseln können. In der einen Welt sichten sie Fakten und sammeln Daten [...]. Und in der anderen Welt lieben und leiden sie, und wenn sie gerade ihr Leben genießen, kommt ihnen ihr genetischer Bauplan weder in die Quere noch in den Sinn." "Doppelte Bildung", soll sie denn einen Sinn haben, müsste sich aber gerade als Überwindung derartiger Dichotomisierungen vollziehen.

Etwas anders lesen sich dagegen die materialen Kapitel, in denen der Autor wissenschaftlichen Entdeckungen wie etwa der Einsteinschen Raumzeit-Krümmung konkreten Sinn abzutrotzen versucht und sie durch Beispiele aus den geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen illustriert. Mit dem Modell eines unbegrenzten, aber endlichen Kosmos haben sich einige theologische und philosophische Fragen wie die nach dem äußersten Rand der Welt erledigt: Wer lange genug im Weltraum unterwegs ist, kehrt schließlich zu seinem Ausgangspunkt zurück. Trotzdem: So grundlegend die in diesem Buch entfalteten Theorien und Begriffe der Geschichte der Naturwissenschaften ("Evolutionäre Erkenntnistheorie", "Genetischer Code", "Wissenschaftliche Revolution") auch sein mögen, so beiläufig und inkonsequent werden sie auch in den meisten Fällen auf ihre bewusstseinsbildende Wirkung hin befragt. Der Leser erfährt nichts, aber auch gar nichts über die verhängnisvollen und moralisch prekären Konsequenzen der Gentechnik und Stammzellenforschung. Auch über das die Wissenschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts beherrschende Paradigma - die Selbstorganisation - schweigt sich Fischer aus.

Nach einer Ausarbeitung des Konzepts einer sich ihrer philosophisch-praktischen Ausdeutung öffnenden Wissenschaft hingegen könnten Feststellungen wie die folgende der Vergangenheit angehören: "Die Wissenschaft kann besonders genau vor allem die Fragen beantworten, die sie sich selbst ausgedacht hat." Deswegen schmerzt es, dass der Band in Aufmachung und Gliederung dem des nur vordergründig kritisierten Schwanitz doch sehr ähnelt. Also hecken 'unvollständige' Kanon-Werke, Information und Wissen geflissentlich verwechselnd, wieder nur weitere, vermeintlich vollständigere? Gebären Parerga - frei nach Schopenhauer - ihre Paralipomena und Wurmfortsätze? Auch wenn brauchbare Ansätze in einem populären Werk wie diesem verdampfen: Autor und Verlag werden sich genau überlegt haben, an welcher Stelle der Buchhandlungen sie den Band plaziert sehen wollten - unweit des Ortes, an dem die Kasse klingelt.

Titelbild

Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte.
Ullstein Taschenbuchverlag, München 2001.
464 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3550071515

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