Ausschnitt aus den Gegenwelten

Jesús Díaz Roman über eine Flucht aus Kuba

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den lateinamerikanischen Migranten in den USA genießen die Kubaner in mehrfacher Hinsicht eine herausgehobene Stellung. Seit 1966 gilt das sogenannte Ley de Ajuste Cubano (Gesetz zur Angleichung Kubas), welches die privilegierte Visavergabe für kubanische Migranten regelt. Nachdem unter anderem von der Hafenstadt Mariel 1980 Zehntausende - unter ihnen auch mit gefälschtem Pass der verfolgte homosexuelle Autor Reynaldo Arenas - nach Florida auswanderten, gaben die USA bald kaum mehr Visa aus. Auch das 1984 mit Kuba geschlossene Abkommen über Visa-Quoten unterlief die US-Regierung, gleichzeitig konnte sich jeder Kubaner, der illegal von der Insel floh, mit Betreten des US-Territoriums die vollen Staatsbürgerschaftsrechte erlangen. Die Propaganda auf beiden Seiten wurde verbissener, Reagan und später Bush Senior. versorgten die rechtskonservativen politischen Exilvertretungen mit reichlich Geld; Radiostationen wurden aufgebaut, illegale Propagandamaterialien über der Insel abgeworfen, logistische Fluchthilfe und gezielte Sabotage unterstützt. Jeder geflohene Kubaner wurde zum Helden im Kampf gegen die Inkarnation des Bösen - Fidel Castro.

Der kubanische Rechtswissenschaftler Miguel A. D'Estéfano Pisani weist auf die Einzigartigkeit der Rechtsregelung wie auch auf den Gegenwert dieser Politik hin, wenn er sagt, dass "indem gleichzeitig die illegale Flucht gefördert, diejenigen, die an den Küsten Floridas ankamen begrüßt und prämiert wurden, alle möglichen Fluchtwege gefördert werden sollten, selbst wenn sie in Überfällen und Tötung von Menschenleben, Entführungen von Booten oder Flugzeugen, bestünden."

In den 90ern erhöhte sich der ökonomische Druck auf Kuba, die Wirtschaftsblockade auf der einen Seite, ineffiziente Produktionsbedingungen und strukturelle Abhängigkeit vom aufgelösten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe auf der anderen. Unter beidseitigem ideologischen Getöse schloss sich die Tür von innen und außen. Nachdem Fidel machtlos war gegen den immer häufiger auf ihrem selbstmörderischen Wege in den sogenannten Balsas - Flößen aus Reifenschläuchen und Brettern - über die Meerenge fliehenden Kubaner setzte seine Regierung die Küstenwache aus. Aber im gleichen Moment änderten die USA ihre Strategie und brachten fortan diejenigen Flüchtlinge, die nicht bis zur Küste vordringen konnten, sondern auf hoher See abgefangen wurden, zurück nach Kuba und internierten sie in der Kaserne von Guantanamo Bay.

Bis heute gibt es nur vage Schätzungen wie viele Kubaner, die mit der Propaganda der einen Welt im Kopf, die andere Propagandawelt zurückzulassen suchten, dabei auf klägliche Weise umkamen. Die Zahl geht wohl in den vierstelligen Bereich.

Lion Feuchtwanger hat in seinem großen Roman "Exil" die Methode entwickelt, wie sich Flucht, Verlassen und Exil verarbeiten und akzeptieren lässt. Im goetheschen "Stirb und werde" liegt für ihn der Schlüssel zur "Reife", zur "größeren Elastizität, zum Blick für das Große, wesentliche und lehrte sie nicht am Unwesentlichen zu haften." Die Anderen hingegen werden entmutigt, zerrieben und bleiben leer, wie Goethe es formulierte, "nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde."

Damit ist der Rahmen für Jesús Díaz gesteckt. Sein Protagonist, Stalin Martínez, findet sich in Miami wieder. Auf dem Dach seines vor langer Zeit schon exliierten Bruders muss er sich verstecken und von der Sonne verbrennen lassen. Die Idee ist einfach: nach einigen Tagen wird Stalin unweit der Küste von Florida ausgesetzt und soll den letzten Rest der Flucht bewältigen. Aus Drittländern werden Kubaner nur nach langwierigen Prozessen eingebürgert, die illegale Flucht wird immer noch am besten belohnt.

Die Handlung ist auf wenige Tage begrenzt. Die Geschichte spielt in der Erinnerung Stalin Martínez' an Kuba, an seine Familie, an alles Schwierige und Komplexe, gegen das er zu kämpfen bestimmt nicht geeignet ist. Die Personen haben wenig Zeit einander zu treffen oder sich auszutauschen, Probleme der Exilkubaner bleiben angedeutet, aber sichtbar. Martínez füllt die Leere der Hitze und der Terrasse mit Erinnerungen an das für ihn nun ungreifbare Kuba. Es ist die surreale Wirklichkeit der Gegenwelten zweier Systeme, grenzbewehrt, dialektisch aufeinander bezogen und existentiell voneinander geschieden. "In Kuba oder aber außerhalb Kubas zu sein war nicht nur eine Frage der geographischen Ortsbestimmung, sondern auch und vor allem die Frage, wie weit man fähig war, Druck sehr verschiedener Art zu widerstehen. In Kuba war ein von der Regierung geschenktes Fahrrad eine Auszeichnung, fast ein Orden. Wenn es dagegen ein in Miami lebender Verwandter geschenkt hatte, war dasselbe Fahrrad ein Symbol des Kapitalismus und kam einer Art Schuldeingeständnis gleich."

Wer einmal in Miami war, erkennt die mühsame Imitation, mehr Projektion und Vorstellungswelt, die Exilkubaner entwickelt haben. Vermischt mit den Gepflogenheiten und Sprachfragmenten der US-amerikanischen Kultur hat sich ein Zerrbild, eine manchmal lustige, oft traurige oder triste Gegenwelt aufgebaut. Viele von den hier Lebenden haben die goethesche Katharsis nicht oder nur fragmentarisch durchlaufen. So auch Martínez' Bruder. Er will, dass sein Sohn ein US-Amerikaner wird. Neurotisch, mit lückenhaftem Spanisch und vorgezeichneter Identitätskrise. Von der Oma hat er die traumatische Vorstellung, Castro würde ihn bei schlechtem Betragen auf die Insel zurückzerren. Kuba gerinnt zur Krankheit.

Als sein Onkel mit einer gekaperten Fähre nach Florida kommt, will dieser nicht um politisches Asyl bitten. Stalin Martínez will zurück zu Frau, Familie und der irgendwie sicheren Welt. Er kehrt zurück in einen Trümmerhaufen, seine geliebte Frau hat einen neuen Liebhaber. "Das Ausland war für sie eine Art Paradies im Jenseits, aus dem niemand mit gesundem Menschenverstand nach Kuba zurückkehrte, und als er in die Vereinigten Staaten entschwand, war es, als wenn er gestorben oder als fremdes Wesen wiedergeboren wäre."

Der Weg ist aussichtslos, Stalin Martínez nutzt die nächste Gelegenheit sich abzusetzen und kehrt ein weiteres, ein letztes Mal nach Miami zurück. Hier, wo Flüchtlinge mit einem "Willkommen in der freien Welt" begrüßt werden, muss er tagelang in sengender Hitze eingesperrt werden, seine Aussicht ist eine Arbeit zum Überleben im Kapitalismus.

Dabei wird er es unter bestimmtem Blickwinkel leichter haben als andere Migranten. Viele von Ihnen sind überdurchschnittlich reich, sie waren es schon als sie 1959 oder kurz danach aus Havanna flohen. Die sehr kleine, aber exquisite Oberschicht, die in der Zucker- und Rohstoffindustrie Millionen verdiente und sich mit den großen amerikanischen Firmen zusammengeschlossen hatte um weltweite Imperien aufzubauen und das Land auszubluten, hat sich in den USA eine sichere Heimstadt aufgebaut. Jeder Kubaner verfügt über Kontakte, Verwandte oder Bekannte und bekommt schnell irgendwo Arbeit. Anders als Guatemalteken, Salvadorieños oder Haitianer müssen sie nicht in der Illegalität leben. Daraus speist sich ein kaum zu brechendes Überlegenheitsgefühl, dass sich bestens mit der in Kuba erfahrenen Sozialisation der Superiorität deckt. Doch was dort zum Nationalismus transformierte und die zivilreligiöse Transzendenz des Realsozialismus ersetzt, muss hier oft mühsam in der brutalen "Leistungsgesellschaft" alltagstauglich gemacht werden. Dennoch, in Kuba glaubt man gerne an sich als etwas ganz Besonderes, Herausragendes und wähnt Andere als faul und dreckig. "Wir Kubaner," so kann man es oft in den Straßen von Havanna hören, "sind eben besser - wir kommen mit nichts und haben ein Jahr später eine eigene Firma." Nur bringt ihnen das oftmals nicht mehr als Geld, denn in ihr geliebtes Kuba können nur die allerwenigsten zurück, nicht einmal zum Urlauben.

Schon deshalb kann die Fluchtursache personalisiert werden. Ob sie dann Fidel Castro oder die untreue Ehefrau Idalys zum Gegenwert macht, ist nur von formalem Wert. Schon in den ersten Momenten seiner Flucht weiß Martínez: "Der Geruch seiner Mutter, seiner Kindheit und seiner Sprache waren für immer zurückgeblieben, so wie die ihm liebsten Menschen, gefangen in jener hoffnungslosen Welt."

Und dabei ist er sich über die Endgültigkeit seines Verlustes klar, sein Lächeln beim Gedanken an eine großes Familienfoto zerbricht "an der unübersehbaren Tatsache [...], dass die Personen auf diesem Gruppenbild nicht in derselben Stadt und nicht im selben Land lebten und dass es keinen Fotoapparat der Welt gab, der sie gemeinsam auf einem Bild festhalten konnte."

Jesús Díaz ist ein zurückhaltender, sanfter Ton zueigen. Für diejenigen, die ein Gefühl für kubanisches Spanisch haben, wird es leicht sein, sich aus der hervorragenden Übersetzung ins Original zurückzudenken. Und doch wird klar, dass die Erinnerung des Stalin Martínez auch die von Díaz sein könnten. Seine Schreibweise ist längst nicht ähnlich mit der brutalen Schonungslosigkeit eines Pedro Juan Gutiérrez, oder mit der arroganten Selbstverliebtheit eines Norberto Fuentes. Er bedient sich nicht annähernd des heutigen, sich gegenüber der steigenden sozialen Gegensätze zuspitzenden Machismo. Der Ort seiner Erzählung muss die Erinnerung bleiben. Die verschwommene Erinnerung determiniert seine Sprache, die Hitze des Daches wird fühlbar und die unscharfe Konstruktion der übrigen Personen neben Martinez fügt sich so in die Selbst-Beschäftigung des Hauptcharakters mit sich selber ein.

Diaz ist nicht Teil der alten Generation des bildungs-bourgeoisen Alejo Carpentier, der frankophile Sprachkaskaden konstruieren konnte. Aus Jesús Díaz atmet der andere, der selten politisch wahrgenommene Exilkubaner, der in bewusster Distanz zu Miami langsam in Madrid hispanisiert und dessen Bilder von Kuba zu wunderschön melancholischen Erinnerungen gerinnen, die deshalb längst nicht fern von der Realität sein müssen. Sie sind nur ein Teil der vielen Facetten dieser Gegenwelten.

Mir ist einmal eine ganz typische und doch in ihrer entwaffnenden Offenheit seltene Begegnung widerfahren. Auf einer Bank in Miami, am berühmten Ocean Drive, saß ein alter, korrekt gekleideter Mann neben mir. Unzweifelhaft Kubaner, mit der lässigen Eleganz steifer alter Männer blickte er aus faltigem Gesicht auf das Meer. Einem Gespräch folgte lange Stille. Er sagt leise, ohne mich dabei anzusehen: "Nun kann ich nur noch hinüberschauen. Aber Junge, erzähl mir von Kuba."

Titelbild

Jesus Diaz: Erzähl mir von Kuba. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Klaus Laabs.
Piper Verlag, München 2001.
300 Seiten,
ISBN-10: 3492042082

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