Vom großen Heiden zum "todkranken Juden"

Heines Rückkehr zu Gott von exemplarischer Bedeutung?

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele Jahre hat sich Heinrich Heine (1797-1856), nach eigenem Zeugnis, "auf allen Tanzböden der Philosophie" herumgetrieben und sich "allen Orgien des Geistes" hingegeben. Doch am Ende eines kämpferischen Lebens, "nach einer Phase der Selbstvergottung, der Selbstanbetung, der Selbstüberschätzung", kam der Einbruch, die persönliche und politische Katastrophe. Eine schwere Krankheit zwingt Heine 1848 aufs Krankenlager, in die "Matratzengruft" zu Paris. Er ist größtenteils gelähmt, fast blind. Sein Körper ist fast auf das Maß eines Kindes geschrumpft, abgemagert zu einem Skelett. Die schmerzhaften Krämpfe versucht der Dichter mit Opium zu betäuben. In diesem Jahr scheitert die Revolution in Europa und Heine erkennt: "In demselben Maße wie die Revolution Rückschritte macht, macht meine Krankheit die ernstlichsten Fortschritte."

Politische Lähmung draußen und körperliche Lähmung drinnen - haben wir es bei dieser ironischen Gleichzeitigkeit der Geschichte mit dem zynischen Spott des Schicksals oder der Götter oder Jehovas zu tun?, fragt sich der in Tübingen lehrende Theologe Karl-Josef Kuschel - Autor vieler Bücher über das Verhältnis von Religion und Literatur - mit Heine. Er betont, dass es in jener Zeit bei dem Dichter zu einer großen "Umwandlung" gekommen sei, zum Wiedererwachen des religiösen Gefühls, zu einer Rückkehr zu Gott, obwohl Heine diesem doch schon vor Jahren das Sterbeglöckchen geläutet hatte und den Himmel eigentlich "Engeln und Spatzen" überlassen wollte. Was Heine nun erlebt, das sei keine Eintrübung gewesen, meint der Autor, sondern eine Erhellung des Verstandes, nicht ein Rückschritt, sondern eine Evolution des Geistes, nicht eine Kapitulation vor der Schwäche, sondern ein Tiefenblick in die Abgründe von Gottes Schöpfung.

Kuschel bemüht sich zu ergründen, wie Heine unter den Bedingungen von Krankheit, Sterben und Todeserfahrung und unter dem Eindruck des Scheiterns politischer Hoffnungen seine Beziehung zu Gott neu gestaltet hat. Detailliert zeichnet er die Dramatik des Suchprozesses nach, in den sich der Todkranke verwickelte. Er schiebt Rückblenden ein auf Heines frühere Lebensabschnitte und wertet gründlich alle verfügbaren Quellen sowie Selbst- und Fremdzeugnisse aus, wobei er sich auch auf bisherige Deutungen der religiösen Dimension in Heines letztem Lebensabschnitt stützt. Jedoch verzichtet Kuschel darauf, Heine in vorgestanzte religiöse oder antireligiöse Schablonen zu pressen. Vor allem lässt er den Dichter häufig zu Worte kommen, da dieser den eigenen Krankheits- und Sterbeprozess über Jahre nicht nur beschrieben und poetisch gestaltet, sondern auch zum Gegenstand der Auseinandersetzung mit sich, mit der Gesellschaft und Gott gemacht hat, so dass über die literarische Formgebung Themen wie Krankheit, Sterben und Tod Öffentlichkeitscharakter bekommen.

In Heines letzten Lebensjahren entstehen politisch-zeitkritische, biblisch-symbolische und persönlich-biografische Gedichte und Texte, die das Thema Tod umkreisen und in denen sowohl die Welt von Diana, Apollo, Dionysos und des Faust als auch die Welt von Jehova, Moses, Lazarus, Hiob und Jesus beschworen wird.

Heines literarischen Texte zeigen, dass er fähig war, im Kontext seines existentiellen Unglücks ein Gespräch mit Gott in den verschiedensten Rollen und Tonarten zu führen und zwar unter den Bedingungen neuzeitlicher Religionskritik, indem er, wenn er mit dem Gott der Hebräischen Bibel redet, alles in ein Zwielicht der Ironie taucht. So denkt er darüber nach, Jahr für Jahr, warum Gott Menschen leiden lässt, und schließt dabei nicht aus, dass es dem Herrn von Himmel und Erde auch "Spaß" machen könnte, Menschen leiden zu sehen.

"Warum muss der Gerechte so viel leiden auf Erden? Warum muss Talent und Ehrlichkeit zugrunde gehen, während der schwadronierende Hanswurst, [...] sich räkelt auf den Pfühlen des Glücks?" grübelt Heine, den der Schmerz zu Gott hinquält. Der Dichter, der jetzt ernst nimmt, was er früher verspottet hat, wandelt sich, schreibt Kuschel in seiner brillanten und subtilen Studie, vom "großen Heiden" zum "todkranken Juden".

"Ich bin zu der Gewissheit gekommen", soll Heine dem Paris-Besucher Ferdinand Meyer im September 1849 gesagt haben, "dass es einen Gott gibt, der ein Richter unserer Taten ist, dass unsere Seele unsterblich und dass es ein Jenseits gibt, wo das Gute belohnt, das Böse bestraft wird." Die politische Linke jedoch, insbesondere Börne und Marx, sahen in Heine einen Verräter und Abtrünnigen, obwohl dieser von seinen politischen und mythopoetischen Überzeugungen nichts abgeschworen und nichts preisgegeben hatte. Allerdings sieht Heine im Licht seiner Rückkehr zu Gott die Probleme der Verwirklichung seiner politischen Träume jetzt nüchterner und realistischer. Die grandiosen Erwartungen an eine künftige Versöhnbarkeit von Gerechtigkeit und Schönheit bleiben indessen ebenso erhalten wie sein Glaube an eine geschichtliche Einlösbarkeit der Menschheitsutopien. Die Antinomien freilich, mit denen Heine zeitlebens gerungen hatte, sind auch am Ende seines Lebens nicht zur Ruhe gekommen. Bis zum Schluss bleibt die Notwendigkeit, Gott mit den Rätseln seiner Schöpfung zu konfrontieren.

"Ich heule dir die Ohren voll/ Wie andre gute Christen-/
O Misere! Verloren geht/ Der beste der Humoristen."

An diesem und an anderen Texten macht Kuschel deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit Gott denkbar ist, bei der selbst der Todkranke und der in seiner Kreatürlichkeit erbärmliche Mensch nichts von seiner Würde und seinem Witz verliert. Heine verbleibt in der Ironie eines Nicht-Begreifens, das in Schmerz, Elend, Ekel und Verzweiflung hadernd auf Gerechtigkeit dringt.

Wie dieser "todkranke Jude", der Lazarus und Hiob zugleich ist, mit Gott redet, erklärt der Autor, sei meilenweit von "theologischer Beschwichtigung" entfernt. Denn Heine beugt sich nicht. Er spielt auch nicht nur mit Gott, und wenn er während seiner Krankheit mit diesem ironisch, spöttisch, geistreich umgeht, so habe dies nichts mit Frivolität zu tun, sondern mit der Freiheit des Menschen, die in der biblischen Hiob-Freiheit begründet ist.

So wie der Tod auf nichts eine Antwort ist, führt der Autor weiter aus, so ist auch Gott nie einfach die Antwort auf all unsere Lebenskrisen und Existenzfragen, schon gar nicht auf die Grundlage nach dem Sinn des Leidens Unschuldiger. Wer an Gott glaubt, erfährt die Widersprüche, die Risse, Brüche und Abgründe in seiner Schöpfung um so schmerzlicher, weil sein Glaube den Schöpfer voraussetzt.

Heines letzter Lebenskampf erzählt, meint Kuschel auf unsere Zeit anspielend, das Drama eines Intellektuellen in der Moderne, der sich von Gott schon verabschiedet hat und dann doch eine Form der Koexistenz sucht, die nicht unter seinem intellektuellen Niveau ist, der den Abschied von Gott einst für einen Freiheitsgewinn hielt, jetzt aber aufgrund neuer Erfahrungen die Verluste bemerkt, die die Selbstunterbrechung religiöser Sinnressourcen mit sich bringt. Was ihn, den Theologen selbst seit langem antreibt, gesteht Kuschel in seinem Nachwort, das seien Entwürfe einer glaubwürdigen Rede von Gott im Angesicht persönlicher oder geschichtlicher Katastrophen. Lange Zeit habe er Heine in erster Linie als Kritiker der Religion gesehen, dann aber sei er auf Texte gestoßen, die ein "Mehr an Sprach- und Denkmöglichkeiten in der kritischen Auseinandersetzung mit Gott" versprachen und er habe geahnt, dass Heines Ringen mit Gott auch für unsere Zeit von größter Bedeutung sei. Von seiner Lebens- und Sterbegeschichte erzählen, hieße zugleich von der Tragödie eines Intellektuellen erzählen, der zu Gott zurückkehren will und gleichzeitig weiß, dass dies nicht sein kann und sein darf, da das Maß an religionskritischer Aufgeklärtheit offenbar jegliche Konzession am Gottesglauben verbietet. Jahrzehntelang habe man sich auf diese Weise die Religion ironisch auf Distanz gehalten. Heute zwängen Zäsurerfahrungen im persönlichen oder politischen Leben nicht selten zu neuen Entscheidungen und möglicherweise zu einer Neubewertung des "Faktors" Religion, wie man sie auch aus Habermas' Friedenspreisrede 2001 habe entnehmen können. Wie aber soll und kann man von Gott neu reden, ohne die berechtigten Einsichten der Religionskritik zu verwerfen? Heine hat, laut Kuschel, einen Weg gefunden, der beides zugleich möglich macht: Demut und Rebellion, Hinnahme des Unabänderlichen und Widerstand dagegen, Ergebung und Anklage. Er habe eine "Rückkehr" zu Gott im Akt des Protestes vollzogen. Seiner Auseinandersetzung mit dem Schöpfer komme mithin exemplarische Bedeutung zu.

Titelbild

Karl-Josef Kuschel: Gottes grausamer Spass? Heinrich Heines Leben mit der Katastrophe.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2002.
360 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3491703506

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