Deutsche Zauberei und liederliche Phantasie

Dietrich Kerlens Poe-Biographie zum 150. Todestag des Dichters

Von Evangelia KaramountzouRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evangelia Karamountzou

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein Großvater, General David Poe, galt als Symbolfigur des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes, seine Opferbereitschaft und sein Patriotismus waren legendär. Sein Vater, David Poe jr., wurde Schauspieler. Nach einem Gastspiel in New York richtete die Kritik ihn regelrecht hin. David Poe jr. flüchtete sich in den Alkohol und stand im Oktober 1809 zum letzten Mal auf der Bühne, bevor er spurlos und für immer verschwand. Im gleichen Jahr wurde Edgar Allan geboren. Seine Mutter Elizabeth, mittellos und tuberkulosekrank, starb zwei Jahre später, im Dezember 1811. Edgar kam in die Obhut von Frances und John Allan, einem Kaufmannsehepaar aus Richmond, wohlhabend genug, um dem Pflegesohn Fürsorge und Zuwendung zuteil werden zu lassen. Edgar Allan, wie er nunmehr hieß, wurde von einer Privatlehrerin unterrichtet, lernte schnell, war charmant, hatte ein angenehmes Äußeres und sicherte sich die Zuneigung seiner Umgebung. 1815 verfügte sein Pflegevater, daß Edgar die nordschottische Old Grammar School in Irvine besuchen solle - zur Tugendbildung in Fleiß, Disziplin und ›männlicher Härte‹. 1817 wurde Stoke Newington, ein düsteres Internat bei London, sein Zuhause, bevor er im Juli 1820 nach Amerika zurückkehrte. Die Jahre zwischen 1820 und 1826, Poes glückliche Jugendzeit, waren nur getrübt durch gelegentliche Reibereien mit dem Stiefvater.

Seit dieser Zeit ist verbürgt, daß Edgar Allan Schriftsteller werden wollte. Seinen Kommilitonen von der University of Charlottsville las er erste Erzählungen vor. Er stürzte sich mit Eifer in das Studium der neuen Sprachen, auch des Deutschen, und schwärmte für E.T.A. Hoffmann. Später wurde ihm vorgeworfen, er sei zu stark von der "German Gothic", der "schwarzen Romantik" der Deutschen beeinflußt. Poe konterte: "In vielen meiner Werke ist der Schrecken gestaltet; doch kommt er nicht aus Deutschland, sondern aus der Seele."

Seit Mai 1927 war Poe Soldat und besuchte die Militärakademie von Westpoint: Im Gegensatz zum Militärdienst Heinrich von Kleists lag der seine in Friedenszeiten, war nicht sonderlich anstrengend und ließ der Dichtung genügend Raum. Doch Poes exzessiver Lebensstil führte 1831 zur "unehrenhaften Entlassung" aus der Armee. Befehlsverweigerung und grobe Pflichtversetzung wurden ihm vorgeworfen. Die Zeit höchster Produktivität begann, meist unter schwierigsten wirtschaftlichen Bedingungen.

Am 7. Oktober jährt sich nun der 150. Todestag Edgar Allan Poes (gestorben 1849). Termingerecht ist eine Biographie erschienen, die die dunklen Seiten seines Wesens erhellen möchte. Seit über 150 Jahren versuchen Poes Biographen, die Details seiner Vita aus den zahllosen Briefen zu schöpfen, der wertvollsten, aber nicht unbedingt klarsten Quelle seines Lebens und Werkes. Die melancholisch-morbide Grundstimmung des Œuvres, die Hervorhebung der Schrecken und des Todes, kurz Poes Modernität zeigen sich nicht bloß im Stil oder in den Themen, sondern auch in der kompromißlosen Lebenseinstellung mit dem Ziel, sich als freier Schriftsteller zu etablieren. Freilich hat der Schöpfer der Detektivgeschichte offene Fragen bezüglich seines Lebens hinterlassen, so daß seine Biographen nun selbst die Rolle des Detektivs spielen müssen.

Dietrich Kerlen legt, in Personalunion von Forscher und Detektiv, bereits sein zweites Poe-Buch vor, eine glaubhafte, faktengetreue Biographie, die einen klaren Blick wirft auf die dürftigen Verhältnisse, die das Leben Poes überschattet haben. Es ist eine umfassende Leben-Werk-Monographie entstanden, die Auszüge aus dem primären Werk ebenso wie aus der Sekundärliteratur aufbietet, Gedichte, Literaturkritiken, Briefe und Short stories. Kerlen befaßt sich respektvoll mit Poe und hält meisterhaft die Balance zwischen Mythos und Wahrheit, Phantasie, Wunschvorstellung und Tatsache, Selbstbild und Fremdbild. Er legt den Schwerpunkt seiner Darstellung nicht wie noch Marie Bonaparte auf die Seelenkunde, auf die Entschlüsselung eines Werkes durch die Analyse einer Vita, sondern auf die Parallelisierung von erzähltem Leben und narrativem Werk. Er läßt es nicht zu, daß das Nebulöse, Ungeklärte dieses Lebens - Poes Drogenkonsum und Alkoholismus etwa oder die letzten Tage vor seinem mysteriösen Tod - im Vordergrund der Vita stehen; Kerlen wählt nicht den Weg des Gerüchts, um seine Leser in die seelische Abgründe des Dichters zu führen, sondern gewinnt sie durch umfassende Information.

Das Buch setzt ein Jahrhundert vor Poes Todesjahr ein, mit einer bis in die Einzelheiten präzisen Beschreibung der Vorfahren Poes und ihrer Lebensverhältnisse. Aus diesem ersten Kapitel wird deutlich, was die Absenz des leiblichen Vaters und der frühe Verlust der Mutter, der Wunsch nach einer eigenen Familie und nach überschaubaren Verhältnissen Poe bedeutet haben müssen. Kerlen hebt ausdrücklich hervor, daß Poes schriftstellerische Laufbahn sehr eng an sein persönliches Glück gebunden war, daß er früh "den süßen Schmerz der Melancholie, den schwarzen Duft der Schwermut" kennengelernt hat. Die Beziehung zwischen Poe und seinem Pflegevater war durch Mangel an wahrem Gefühl und Vertrauen charakterisiert; sie führte, motiviert besonders von John Allans Seite, schließlich zum Bruch und zur Enterbung. Die allgegenwärtigen Motive im Werk des Dichters, die sterbenden jungen Frauen, die Wehmut des Verlustes und die Anmut des Todes sind schon in den frühen Gedichten erkennbar. Trotz des abgebrochenen Studiums an der University of Virginia und trotz der gescheiterten West Point-Karriere haben - abgesehen von gelegentlichen Exzessen - Disziplin, Fleiß und Produktivität Poes weiteres Leben bestimmt. Der feste Entschluß, sich als freier Schriftsteller zu etablieren, ließ auch gar nichts anderes zu. Frühzeitig erkannte Poe, daß "die Vereinigten Staaten eine zu enge Sphäre" sind: "die Welt soll meine Bühne sein".

Poes Biograph Kerlen widmet den frühen Lebensjahren des Autors den umfassendsten Teil seiner Biographie; er betrachtet diese Jahre als bestimmend für alle späteren Weichenstellungen. Der Biograph versucht, den wechselnden Stimmungslagen zu folgen, sein Stil wirkt mal pompös, mal bitter oder voller Freude angesichts der ersehnten Anerkennung für Poe. Kerlen folgt dem Dichter auf seinen Abwegen und versucht doch, jeden Zweifel an die Klarheit der Poeschen Texte auszuräumen, denn seine "Leidenschaften entsprangen stets nur dem Kopfe". "Reflexivität, Rationalität, Kalkül und handwerkliches Können" rangierten bei Poe vor dem "Genie". Theodor W. Adorno, der Poe und Baudelaire als die ersten "Technokraten der Kunst" bezeichnete, hat diesen Vorrang des Handwerks und des Formalen hervorgehoben.

Die Kapitel über die Hochphasen von Poes Produktivität stellen zugleich eine Einführung in die Geschichte der Verlage und des Buchhandels in den Vereinigten Staaten dar. Poes Rastlosigkeit, seine "Textexistenz", zwingen seinen Biographen, den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen nachzugehen. Poe hat bei verschiedenen Zeitschriften in Richmond, New York und Philadelphia Erfahrungen als Redakteur und Herausgeber gesammelt. Seine Beziehungen zur zeitgenössischen Konkurrenz sind ebenso Gegenstand der Darstellung wie seine - oftmals, aber nicht immer "schwesterliche" - Liebe zu den Frauen und seine - demzufolge verdrängte - Sexualität. Kerlen macht seine Leser mit Poes Autorentheorie ebenso vertraut wie mit seinen literaturkritischen und literarhistorischen Überlegungen. Poe war Skeptiker, und die größte Skepsis galt seinem eigenen Werk. Hier wird klar, weshalb der Vater der Short story, der Verfasser des berühmten Gedichtes "Der Rabe" (1844) und vieler wissenschaftlicher Essays, seinen Ambitionen nicht gerecht werden konnte. Folglich nahm sein Hang zur Selbstzerstörung zu. Das dekadente Europa war reif genug, seine Welt des Schreckens und des Untergangs aufzunehmen. Kerlen verweist auf verschiedene Quellen, die erkennen lassen, daß der amerikanische Autor einen Prototyp von Baudelaires l'art pour l'art-Prinzip geschaffen hat. Der Vorrang des Formalen, das in Poes Dichtkunst Gestalt wird, und seine Aufforderung nach Rationalität und Reflexivität in der Kunst bekräftigten das Vorurteil der amerikanischen Leser, die ihm "deutsche Zauberei" und "liederliche Phantasie" vorwarfen. Am Ende steht der einsame Tod des Dichters: ein miserable death ebenso wie seine miserable Existance. Immerhin: Sein Werk ist greifbar, seit Mitte der sechziger Jahre in den Übersetzungen von Arno Schmidt und Hans Wollschläger. Kein schlechtes Omen für einen Klassiker der Moderne.

Titelbild

Dietrich Kerlen: Edgar Allan Poe: Der schwarze Duft der Schwermut.
Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 1999.
320 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3549058233

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