Gedankenstriche, Achselzucken

Klaus Hensel lässt reizvolle Gedichte in einem unauffälligen Gedichtband verschwinden

Von Stefan WieczorekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Wieczorek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einem Gedankenstrich enden viele der Gedichte in Klaus Hensels "Humboldtstraße, römisches Rot". Als ob die eigentliche Reflexion erst nach dem Text beginnt, es dem Leser überlassen bleibt, diesen augenfälligen Leerraum zu füllen. Das Gedicht hält am Gedankenstrich inne, zögert gleichsam, ob es auf ein Finale, eine Sentenz zuläuft - und bricht ab.

Ein solches Gedicht entlässt den Leser nicht, es verpflichtet ihn. Allerdings kentert dieses dialogische Konstruktionsprinzip, wenn der Gedankenstrich nicht mehr zum Reflexionszeichen wird, sondern durch ein Achselzucken kommentiert wird. Und genau dies lösen eine Vielzahl von Hensels neuen Texten aus. Beispielsweise "Liebe, ist es Liebe", der den beinahe zum geflügelten Wort gewordenen Gedichttitel von Erich Fried variiert: "Auch wenn sie es nicht ist / Ist sie, was sie ist, Liebe / weil sie allein uns fragen / läßt, ob sie ist und wenn / warum sie so ist, Liebe / und nicht anders -" Gleichermaßen routiniert wie zu wohltemperiert scheinen diese Verse.

Dabei beeindruckt der Gedichtband im übrigen dort, wo er sich auf dieses in Misskredit geratene Sujet des Liebesgedichts einlässt. Liebesgedichte haben einen schlechten Ruf, allzu sehr scheinen sie dem Sentiment verwandt, das mitunter mit Lyrik verwechselt wird. Wenn also in der Gegenwartsliteratur von Liebesgedichten die Rede ist, muss mindestens ein ironisches Augenzwinkern oder gar Zynismus mitgedacht werden. Um Missverständnissen vorzubeugen stellt der Verlag dem Bändchen im Klappentext auch einige Bemerkungen von Heinz Czechowski zur Seite, die bescheinigen, dass es in Hensels erotischen Gedichten natürlich um die Verweigerung und Verneinung der Geschlechter gehe, um die Bruchstellen, die Gefährdung. Nur mag das nicht zu den leichten, mitunter geradezu fröhlichen Texten passen, die Hensel hier vorlegt. Geschickt werden Binnenreime eingesetzt, die das Gedicht in Rhythmussequenzen strukturieren: Und schon übt sich mein Mund in / Zungen: Glossolalie. Marie. Meine Stimme / ein Anker in deinem Haar. Schön / seid ihr, sagt die Neapolitanerin an der Bar. Wie / lange schon seid ihr ein Paar?" Diese Gedichte beharren darauf, dass das "programmierte Glück, die Liebe", für die eine oder andere Einsicht und Verwunderung taugt. Nicht Abstraktion wird gesucht, vielmehr die Lust am Text, am Detail, an der Episode gefunden: "Weil du aber so weit weg bist, taucht mein Hirn alles, was mir / begegnet, in dein Licht." Diese Bescheidenheit bewahrt die Gedichte vor Pathos oder Originalitätszwang und macht sie zu den überraschenden Höhepunkten des Bandes.

Die Liebesgedichte bilden ein schönes Konvolut, für einen ganzen Band reicht dieses allerdings nicht aus. Wahrscheinlich deshalb wurden zahlreiche Gelegenheitsgedichte, Erlebnisgedichte und aphoristische Verse aufgenommen, die aber jegliche Bandkonzeption sprengen, vielmehr einen Füllhorncharakter erzeugen. Eher launig und holprig werden kanonische Texte zitiert oder persifliert, etwa Brechts "was sind das für Zeiten, da / wo man Taten in Talkshows / verbricht, sprechend / wovon man nicht sprechen kann, / von Bäumen aber / ganz zu schweigen / sich nicht traut" oder Mignons Lied "Kennst du das Land, wo / Frauen Lire nehmen?"

Ein poetisches Projekt entwickelt sich noch einmal in drei Reisegedichten, die einen eigenen Abschnitt bilden. Die Reise, die zum Gegenstand des Gedichts wird, führt nach Auschwitz, in die heutige Stadt, in den "Night-Club im alten / Plattenbau" und zurück nach Berlin in die nächste Erfahrung des Ungleichzeitigen. Hier scheint das Gedicht durch sein spezifisches Geschichts- und Sprachbewusstsein wieder eine kommunikative Funktion zu erlangen, eine Reflexion über Erinnerungsfähigkeit und Erinnerungszwang einzuleiten, die zu den eigensten Möglichkeiten der Poesie zählt. Hier wird auch der Verweis im Gedicht auf Celans Todesfuge als Wahrnehmungsfolie sinnstiftend.

Vielleicht ist es die Funktion der Poesie, die in diesem Gedichtband eigentlich zur Debatte steht. Gelegentlich spürt man die Notwendigkeit, die zum Gedicht führt. Demgegenüber stehen zahlreiche Texte, die beinahe trotzig zu ihrer Beliebigkeit stehen, etwa das Kurzgedicht "Der Kuß / Ich laufe mir hinterher, du stehst / neben dir / Wer küßt wen?" Unterzugehen drohen dabei einige hervorragende Texte.

Titelbild

Klaus Hensel: Humboldtstraße, römisches Rot. Liebesgedichte.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
87 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 389561131X

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