Die Welt durch ein Kaleidoskop

Silke Scheuermanns "Der Tag an dem die Möwen zweisprachig sangen"

Von Anna EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Silber-, Elfenbein-, Sturm-, Eis-, Polar-, Lach-, und Mantelmöwen leben über den Globus verteilt und sie alle "gehn [...] nicht etwa / zu Fuß wie wir / sondern fliegen über der Wolkendecke", sobald ihnen unsere Gesellschaft unangenehm wird. Wir tun es ihnen in Gedanken nach. Wie durch ein Kaleidoskop eröffnet uns Silke Scheuermann in ihrem ersten Lyrikband "Der Tag an dem die Möwen zweisprachig sangen" Vogel- und eigene Perspektiven.

Ohne Wehmut entsteht der Verlust einer unwiederbringlich verlorenen Zeit des lyrischen "Du", die Sehnsucht nach Sicherheit. Aber Unaussprechliches, "ein einziges Wort / fest wie Salz auf der Zunge" und Unausgesprochenes vermögen die Kommunikation nicht abzubrechen: "ich erschrecke nicht / ersticke nicht / Wenn du sprichst."

Nein, nach "Nächten von fast vollkommener Stille" wird ein Traum geboren, der Bestand hat, kein Luftschloss, sondern ein "einfache[s] Haus." So wählt Scheuermann auch ihre Sprache, sie gibt Einlass und viel Raum.

Niemand weiß, "welche Prophezeiung / hinter unsern Stirnen lauert," aber der Leser bekommt zumindest einen guten Rat und der ist bekanntlich anderswo teuer: "schlaf nie mit einem Fotografen / sie haben schon zu viel gesehen."

Der stellenweise forsch-ironische Ton wird durch die seltenen Reime hervorgehoben, "geduldig und schuldig" wirken aalglatt. Wir beginnen zu ahnen: Es ist "ruckeldizu / [..] Blut [..] im Schuh." Aber Aschenputtel aus dem "Osten" erhält in "Erkennen Sie / die Melodie / der Macht" nicht den Prinzen samt dem halben Königreich, die Hoffnungen werden "verraten verhöhnt." Stattdessen bleibt ein "Rest Republik", der "sperrig vom Flohmarkt" ragt.

Es gibt Zweifler, die uns nicht für "weltalltauglich" halten, die sich fragen, "wie langen wir noch hausen werden" und was auf uns zukommt, wenn "unser Heim / zu alt geworden" ist. Wir rennen mit ihnen "durch Fensterrahmen / Türrahmen die Enge der Pforte nach draußen", werden eingeladen zu einem Weltraumspaziergang. Fragen uns, seit wann die "Sterngespräche / anders geführt" werden. Scheuermann schenkt uns in "Gründlich formatierte / Sterne grüßen dich" "Raumschiffaugen", mit denen wir die "Chance zum Aufbruch" wahrnehmen können.

Die Allausflüge und überhaupt alle Fantasiereisen werden bedroht, denn jemand "Rast jedenfalls durch die Welt" und schwärzt sie: "Seitefürseite wird ausgemerzt."

Scheuermanns Gedichte sind keine Ausgemerzten, sie können sich wie in "Dieses Licht" zu Kurzprosa verflüssigen, und doch bleibt jedes Gedicht für sich ein Brühwürfel.

Sie hat nicht vergessen, dass am Anfang das Wort war und "Auch Liebe war ja irgendwie am Anfang." Aschenputtel und Schneewittchen danken´s ihr, "Beerdigt werden die Erzähler / Denn alle Märchen wollen auferstehn."

Wir dürfen Silke Scheuermann Glauben schenken, sie ist schließlich auch Journalistin und hat ein "Interview mit Vogel Rock" geführt. "Er krächzt nicht / er lacht" und schüttelt ihr die Hand. "Es ergibt sich / ein Gespräch das fliegt / wie ein einziges treffendes Wort / fort." Der Vogel kann uns noch Fremdes berichten. "Was kommt wenn wir uns alle Geschichten erzählt / haben", muss Silke Scheuermann uns nicht beantworten. Ihr Lyrikband ist reich an Neuem. Sie öffnet uns ein "Fenster am Rande des Blicks."

Titelbild

Silke Scheuermann: Der Tag, an dem die Möwen zweistimmig sangen. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
72 Seiten, 6,50 EUR.
ISBN-10: 3518122398

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