Verlöschen im Weiß

Thomas Flechtners kaltblütiger Fotoband "SNOW"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schnee vermag unser weihnachtliches Weltbild üblicherweise nicht zu erschüttern. Herrlich, wenn er im Advent sanft die Hügel zudeckt und den Baumwipfeln Zuckerhüte aufsetzt, jedes gesprochene Wort in Watte packt oder unter den gefütterten Stiefeln knirscht. Perspektivenwechsel: Mit Hilfe von Bakterien wird Schnee ausgeflockt, als Gefrierprodukt mit computergesteuerten Beschneiungsanlagen und Hochdrucklanzen auf die frühlingshaften Hänge katapultiert. Nächtens von unermüdlichen Pistenpräparatoren planiert und festgeklopft, dient er als Untergrund für touristische Rutschpartien. Im "Alpin-Center Bottrop", so ist zu vernehmen, können Freunde des winterlichen Vergnügens auch bei Hochtemperaturen Eiszeit feiern. Oder, drittes, aber darum nicht weniger frostiges Szenarium: Wenn die ehedem weiße Pracht schließlich als glatt polierter Belag den automobilen Bewegungsdrang leerlaufen lässt, als schmutzige, löchrige Zunge über den Asphalt leckt, Fußwege unpassierbar macht und wir ihr mit Streusalz und motorisierten Pflügen auf den ephemeren Leib rücken.

Mit solchen Lesarten haben die Bilder von Thomas Flechtner, Hoffnungsträger der jungen Schweizer Fotografie und dreifacher Stipendiat der Eidgenossenschaft, nichts gemein. Der Schnee, das fünfte Element, führt bei Flechtner eine Art Eigenleben. Mit brachialer Gewalt oder andauernder, sanfter Schwere formt er, erstickt er, belagert er, löscht er aus. Schnee transfomiert die unverschneite Welt in einen empfindlich unterkühlten Doppelgänger ihrer selbst und stellt ihrem menschlich zivilisierten Teil die grandiose Langmut des Elementaren entgegen. Die Bilder von gefrierender Flüssigkeit und gnadenloser Kälte, mit eindringlicher Überschärfe abgelichtet und als imposante Querformate in das riesige Hochformat des Buchs gestellt, sind in des Wortes Doppelsinn atemberaubend. Flechtners nur vordergründig dokumentarfotografischen Schnee-Arrangements machen andere als anthropomorphe Bezugsgrößen erfahrbar, sie bergen die Qualitäten des Stillstands, der Ruhe und der Einsamkeit. Dabei muss der Fotograf die Wandlungsfähigkeit seines Gegenstandes in den vier Studien des Bandes ("Walks", "Passes", "Colder", "Frozen") gar nicht einmal leugnen.

Da sind die azurblauen, von einem weißen Irgendwas durchkräuselten Schneefelder, angesichts derer sich der Betrachter eher in tropischen Gewässern als in einer Eiswüste wähnt. Da sind Schneedünen oder sanft geschwungene Hügel, dann wieder Flächen mit konzentrischen Kreisen. Mit menschlichen Spuren durchfurchtes Weiß. Flechtners "Walks"-Loipen. Jetzt ein Wechsel der Lichtverhältnisse. Nacht. Schnee von ungeheurer Schwärze und doch gläsern. Die Loipen, in denen sich das Restlicht fängt, sind illuminiert und bilden eine Art Amphitheater. In "Passes" beginnt der Schnee, Relikte unserer Zivilisation schon unkenntlich zu machen, er verwischt und verweht, was sich da an Bauten und sonstigen Wegmarken der Natur entgegenstellt. Einige Seiten später ist eine Pass-Straße am Gotthard einfach weggebrochen, die Leitplanken winden sich haltlos in die Tiefe. Ruinenästhetik. Nun eine Abbruchkante, an der sich der Schnee in Lagen übereinander schichtet, sich faltet und gepresst wird. Man ahnt die Kräfte, die hier walteten.

Dann das allergrößte Ausweg-Los: Das Tor eines Tunnels ist bis unter die Decke verschüttet, der massige Schnee-Propf mündet kegelförmig über einer Betonmarkierung aus. Bunkeratmosphäre - oder der erste Grabungserfolg einer künftigen archäologischen Expedition. Umseitig hat es sich einfach in eine Röhre erbrochen und ist wie magmagleich erstarrt. Bilder aus der Zukunft - der Zeit nach der Katastrophe.

Aber es gibt doch auch gegenläufige Tendenzen in Flechtners apokalyptischen Bild-Welten? Sicher, mit dem Einsetzen des Tauwetters macht der Beton Boden gut, hinterlässt nur hier und dort einen schmutzigen Mini-Eisberg oder eine Halde unansehnlichen Auswurfs. In "Colder", einer Studie aus La-Chaux-de-Fonds, nur noch Fotos von Städten und Bauwerken, menschlichen Trutzburgen, denen das umgebende Weiß nichts anhaben kann. Aber der Einklang mit der Naturgewalt Schnee, die friedliche Koexistenz von heimelig beheizten Innenräumen und ungeschütztem Außen, entpuppt sich sogleich als Illusion. Der Schnee hat die Stadt erstickt, die in ihrer Aufgeräumtheit an Edward Hopper erinnernden Szenarien wirken trügerisch und unwirklich unter dem künstlichen Licht der Straßenlaternen, Leuchtreklamen und Flutlichtanlagen. Die Gebäude werden zu Kulissen. Hier wohnt kein Mensch.

Betrachtet man die Kapitel in ihrer chronologischen Abfolge, so steht mit "Frozen" am Ende die Geste des Ungeschehenmachens. Island, weit und öd. Dem Betrachter, gäbe es ihn noch, gingen die Augen angesichts des Permafrost, der endlosen Eiszeit-Tundren über, die nur noch die Relikte ihrer eigenen Bauwerke - sind es Stein-, sind es Eisplatten? - begraben.

Eisflächen, durch mehrfaches Antauen und Gefrieren mit untergründigen Kratern übersät, plan geschliffen über Blasen und Einschlüssen. In den Schründen und Wundmalen Schnee-Verwehungen. Schnee als Füll- und Spachtelmasse in einem elementaren Prozess des Glättens, Fräsens und Einebnens. Schnee als körniger, vom Wind behutsam zu kleinen Rampen aufgetürmter Belag. Ein äonenlanges Ausatmen. Dann werfen sich vor dem dekonturierenden Horizont tonnenförmige Schollen auf, Flechtner zitiert bewusst unbestimmt aus dem Niemandsland zwischen C. D. Friedrichs "Gescheiterter Hoffnung" und dem "Mönch am Meer". Zwar stoßen wir auch in diesen Schnee-Bildern auf Brüche, die ein Ende der unwirtlichen Welt verheißen: Risse oder von Wasser gesäumte Ränder. Aber was einsickert durch die Augenhöhlen und gefriert unter dem Schädeldach, ist und bleibt der Eindruck des zersetzenden Weiß' der Auflösung und - vielleicht - der Erlösung. Es ist ausgestanden. Das Kesseltreiben der Geschichte, vorüber. In den langen Belichtungszeiten vollzieht sich fast unmerklich eine Elementarisierung des zwanghaft solipsistischen Blicks, seine Metamorphose zu einer mystischen, jedenfalls aber versöhnlichen Perspektive: Es war einmal.

Ein Buch ganz in weiß, verschwenderisch ausgestattet und in seiner kompromisslosen Umsetzung selbst ein Stück Papier gewordener Vergeblichkeit. Ein verlegerisch mutiges "Umsonst". Da die große "SNOW"-Ausgabe bald vergriffen sein wird, sei darauf hingewiesen, dass im Herbst 2002 eine kleinere "Volksausgabe" in den Handel kommt: genau das gleiche Buch, gleiche Ausstattung, gleiche Qualität, aber in einem kleineren Format. Für alle, die sich nicht sattsehen können an der Welt-ohne-uns.

Titelbild

Thomas Flechtner: Snow. Fotoband.
Lars Müller Publishers, Basel 2001.
160 Seiten, 85,00 EUR.
ISBN-10: 3907078497

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