Von Menschen und Makeln

Hugo Loetscher diskutiert den "Buckel" als menschliches Manko

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Von Gesa Steinbrink

Der Buckel als unverkennbares Merkmal des fehlerhaften Menschen steht im Mittelpunkt dieser neunzehn, zum Teil bisher unveröffentlichten Geschichten. Phantasievoll, aber präzise, voller hintergründiger Ironie, bisweilen tragisch, lakonisch und beinah unerträglich wahr erzählt Hugo Loetscher von Menschen mit Makeln, deretwegen sie zu Außenseitern werden. Aber gerade im oftmals erbarmungslosen Umgang mit diesen Menschen offenbart sich die Unzulänglichkeit eben derer, die sie verstoßen.

In besonderem Maße zeigt sich dies an der eindrucksvollen Geschichte des "Comprachico", einem Kinderkäufer, der mit wahrheitsverkündenden Gauklern, Zwergen und verstümmelten Kindern die feine Gesellschaft unterhält und es auf diesem Wege zu Geld und Ruhm gebracht hat. Am Ende jedoch muss er am eigenen Leib schmerzhaft erfahren, was es mit Vergils Zitat "Maske wirst du sein und immer wirst du lachen" auf sich hat, das er sich ehedem so selbsthuldigend auf sein Familienwappen schreiben ließ; nur die Gezeichneten dürfen unverhohlen die Wahrheit sagen.

Von einem wunderlichen Oberst a. D. ist die Rede, der seinem Ruhestand lustvoll frönt, indem er korrigierende Leserbriefe an die "Times" schreibt und während einer Zugfahrt die Reisenden mit der Frage nach seinem entlaufenen Krokodil in Angst und Schrecken versetzt, frei nach dem Motto: "wie stiftet man mit einem Minimum an Worten ein Maximum an Unordnung?" Ungewöhnlich auch sein Letzter Wille: die Trauernden mögen doch bitte mit seinem Sarg noch einmal die Stationen seiner ausgeklügelten und täglich erprobten Trinktour - von ihm selbst als "Inspektion" bezeichnet - abschreiten.

"Die lederne Gesinnung" eines portugiesischen Schuhmacherleins erweist sich posthum als Irrglaube. Der Mann hatte zeit seines Lebens behauptet, die Bewohner dieser Welt seien in Wirklichkeit gar keine Menschen, sondern täten nur so. Als Beweisgrundlage führt er eine wahrhaft ungeheuerliche Panne beim Betreten der Arche Noah an: die Menschen seien in der Sintflut ertrunken, statt dessen hätten sich Ungeheuer unter die Tiere gemischt, die sich fortan als Menschen ausgäben. Infolge dieser Theorie wird er zum Nihilisten und setzt sich für hemmungslose Promiskuität ein. Trotz einer großen Anhängerschaft muss er sich für seine sittenwidrigen Forderungen vor Gericht verantworten. Mit grausamer Folter versuchen seine Gegner, ihn von seinen Ansichten abzubringen, was ihnen dank seiner vermeintlich ledernen Gesinnung nicht gelang, so die offizielle Version. Viele Jahre später wird ein Zeitzeugendokument gefunden, in dem geschrieben steht, dass das Schuhmacherlein angesichts der unerträglichen Todesqualen eingeräumt habe, seine Peiniger seien ja tatsächlich Menschen.

Der thematischen Vielfalt Hugo Loetschers sind keine Grenzen gesetzt. Ein junger Mann interessiert sich mehr für die Methodologie des Lebens als für das Leben selbst, ein kamera-fressender Elefant wird zum Philosophen ernannt, tragikomisch wird erklärt, wie der kleine "Warumnicht" dank seines gleichgültigen Vaters zu seinem Namen kommt, und Candides kleiner Garten fällt dem Fortschritt zum Opfer, woraufhin er fasziniert den "global-garden" via Fernseher entdeckt. "Die Einwilligung" ist die berührende Geschichte eines aidskranken Mannes, der Bilanz zieht und sich daraufhin entschließt, dem nahen Tod entgegenzukommen.

Hugo Loetscher wagt sich an die Schwächen und Abgründe der Menschen, die sie als solche auszeichnen, und erweist sich dabei als aufmerksamer, kritischer Beobachter. Ein satirischer Blick hinter die Kulissen führt zu vielerlei Einsichten. Denn gerade die Unvollkommenheit ist es, die uns liebenswürdig, verletzlich, lustig, lächerlich und manchmal auch grausam erscheinen lässt. Dabei wird deutlich, dass Loetscher die Überheblichkeit derer verurteilt, die meinen, sich über die augenscheinlich Beeinträchtigten, Hässlichen, Fehlerhaften stellen zu können.

Einer der wohl berühmtesten Buckligen, Georg Christoph Lichtenberg, origineller Dichter und Verfasser zahlreicher scharfsinniger Aphorismen, formulierte sogar einen Vorteil seiner Deformation: "bey mir liegt das Hertz dem Kopf wenigstens um einen ganzen Schuh näher als bei den übrigen Menschen [...] Die Entschlüsse können noch gantz warm ratificirt werden." Klingt einleuchtend, entbehrt jedoch nicht eines gewissen humorvollen Zynismus, mit dem er sein Manko aufzupolieren versucht. Auch Loetschers Ton zeichnet sich durch eine gewisse humoristische Leichtigkeit aus, wodurch die eigentlichen Aussagen der Geschichten umso effektvoller herausgestellt werden. Was auf den ersten Blick fernab jeder Realität wirkt, gibt sich bei genauerem Hinsehen als konkrete Abbildung der Wirklichkeit zu erkennen, wie man mal belustigt, mal zähneknirschend feststellt. Unvermittelt taucht man in die Geschichten ein und wird mit einer unaufdringlichen, aber äußerst wirkungsvollen Erkenntnis wieder entlassen:

"Es findet der große Austausch der Buckel statt: des Buckels, den einer sichtbar trägt, und jenes Buckels, den die andern haben, ohne daß man ihn sähe. So stellt sich ein Moment der Gleichheit ein. Es ist der Augenblick, in dem der Zirkus aufhört und die Literatur beginnt."

Titelbild

Hugo Loetscher: Der Buckel. Geschichten.
Diogenes Verlag, Zürich 2002.
222 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3257063059

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