Das Geräusch der anderen

Axel Brauns klangvolles Buch aus der autistischen Welt

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir hangeln uns an Wörtern durch die Welt, ohne Gedanken daran zu verschwenden. Das Netz unserer Gespräche - und Selbstgespräche - gibt uns Sicherheit. Gleichwohl kennen wir den Schrecken, wenn das Netz zerreißt, wenn das Gespräch aus den Fugen gerät. Es packt uns abgrundtiefe Verzweiflung über ein Gegenüber, das nicht zu verstehen ist oder nicht verstehen will. Erst dann erkennen wir: Zum Missverstehen braucht es nichts als Worte. Ein Absturz droht schon nach wenigen unverständlichen Sätzen. Im Nu fällt man auf Kleinkindstatus zurück und fühlt sich in tiefer Hilflosigkeit mutterseelenallein. Unvermeidlicherweise geschieht das oft im Ausland: Alles redet auf einen ein, bemüht sich redlich mit Händen und Füßen, doch wir hören nur Lärm, Geräusch, Chaos, während die Panik wächst.

In Axel Brauns Buch "Buntschatten und Fledermäuse" geht es um diese Erfahrung, doch nicht als vorübergehende Episode, sondern als prägendes Lebensgefühl. Wunderbarer Weise schildert Brauns seinen mühsalvollen Weg vom in sich selbst gefangenen Kleinkind mit schweren Sprachstörungen bis zum selbständig lebenden Studenten nicht als Krankenbericht, sondern als wortfrohe Forschungsprosa aus dem Logbuch eines Autisten in der Welt der Normalen. Mit dem Erkenntnisgewinn bei der Lektüre dieses Buches stellt sich deshalb gleichzeitig ein Sprachgewinn ein: Die "innere Naschkatze", "eistreu", "lichtelschön", "Näpfchengeräusch", "Löffelfest", "erzhöchlich" sind nur einige der zahlreichen Wortgeschenke, die Axel Brauns uns "Maren" - sein Wort für die Normalen - macht. Am 2. Juli 1963 kommt er auf die Welt, 39 Tage vor dem zweiten Juli hat sein Bruder Geburtstag, 39 Tage danach seine Mutter, und der 2. Juli ist als 183. Tag genau die Mitte des Jahres. Zahlenkorrespondenzen erfreuen Brauns schon als Kind unmittelbar. Vielleicht gefiele ihm also auch, dass ich vierzehn Tage nach ihm ebenfalls in Hamburg und zwar an dem Tag, an dem er sein erstes Sparbuch erhielt, geboren wurde. Genauso begeistern Brauns klare geometrische Muster wie Gehwegplatten oder ein Schachbrett. Überhaupt begrüßt er - im Wortsinn - die Ordnung der Dinge, fürchtet alleine schon deswegen die für ihn völlig unverständliche Angewohnheit seiner Eltern, Möbel zu verschieben oder gar Zimmer zu tauschen. "Geräusche" und "Klänge" bedeuten ihm etwas, doch der Unterschied zwischen Wörtern und Geräuschen besteht für ihn lange Jahre nicht. Er liebt das satte Insschlossfallen der schweren Kellertür, auch ihre Klinke bewegt er mit Leidenschaft auf und ab. Lichtschalter, besonders Kippschalter bezaubern ihn. Wörter dagegen dringen selten zu ihm vor, ihr Bezug zur Welt um ihn erschließt sich nicht. Sie bleiben allzu oft nichts als Geräusch. Doch selbst wenn er ihren Oberflächensinn versteht, versteht er ihre übertragene Bedeutung nicht. Vergeblich sucht er sein Brett vor dem Kopf, unergründlich ist ihm, warum man Geld auf den Kopf hauen soll, weil ihm die herabfallenden Münzen keine Lust bereiten.

Die Trennschärfe, die uns so selbstverständlich ist, fehlt ihm in vielen Bereichen. Wörter, die ähnlich klingen wie "Ironie" und "Urin", scheinen ihm Synonyme; Erinnerung, Gegenwart und Vergangenheit schieben sich zuweilen ineinander; Menschen unterscheidet er jeweils im Moment nur als "Buntschatten", das sind die freundlichen, angenehmen, und "Fledermäuse", das sind die fordernden, unangenehmen. Warum sich jemand plötzlich von dem einen in das andere und gleich wieder zurück verwandeln kann, versteht er nicht. Die Gesetze der Welt um ihn lernt er nur sehr langsam, wobei sie ihre Fremdheit und Sinnlosigkeit für ihn nie verlieren. Es fehlt ihm die ganz fundamentale Fähigkeit der Empathie, der Verbindung seiner Innenwelt mit der Außenwelt und der Innenwelt der anderen, so dass ihm Höflichkeit, Liebe, Gefühle überhaupt undurchschaubar bleiben. Als sein Vater stirbt, heult er zwar mit, weil es gut tut, doch empfindet er dabei nicht das, was sein Bruder, seine Mutter empfinden: "Trauer war mir so fremd wie Schmerz." Schon bei seinem eigenen Körper beginnt ja das fremde Terrain, denn er spürt ihn nur selten, beispielsweise bei einer Reizstrombehandlung oder besonders heißem Baden. So ist Selbstschutz für ihn etwas, das er sich einschärfen muss: "Ich durfte nicht in der Nordsee ertrinken und ich durfte nicht auf der Straße überfahren werden. Das war wichtig." Menschen, die von seiner Krankheit erfahren, versichern Brauns, "dass er gar nicht wie ein Autist aussähe. Ich antworte dann, da hätten sie Recht. Ich gehöre zu den leichten Fällen und habe großes Glück gehabt." Ein wenig von diesem Glück strahlt auf die Leser ab, denn Brauns, der sich die Welt der Wörter unter unendlichen Mühen erarbeiten musste, versteht unterdessen die Sprache auf eine Art zu gebrauchen, die in ihrer Freiheit viele Überraschungen bietet, in ihrer so gar nicht mileidheischenden Lakonie wie ein Uhrwerk eifrig forttickt, in ihrem Witz bezirzt und in ihrer plötzlichen Poesie - "Finsternis umgürtete mich" - anrührt.

Wir "mare" Leser können nicht entscheiden, ob Axel Brauns Buch die Welt des Autisten zutreffend beschreibt, das könnte der Autor wohl selbst nicht. Doch dass er uns durch die kunstvolle Beschreibung seiner Sicht auf unsere Welt die Augen öffnet für seine und für unsere Existenz, steht außer Frage.

Titelbild

Axel Brauns: Buntschatten und Fledermäuse. Leben in einer anderen Welt.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2002.
394 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3455093531

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