Labyrinth der Miniaturen

Julien Gracqs "Witterungen"

Von Marion GeesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Gees

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder werden Autoren aufgefordert, ihre eigenen Texte selbst zu bewerten. So verlockend diese Erwartung sein mag, so dürfte doch auch klar sein, auf welches Glatteis sich der Fragende begibt, zumal er sich am Ende häufig mit nichts als Widerspruch und Indifferenz konfrontiert sieht. "Sie fragen mich, was ich von meinen Büchern halte? Unendlich mehr und unendlich weniger als Sie." So lautet eine der lakonisch-verschlüsselten Selbsteinschätzungen des französischen Schriftstellers Julien Gracq in seinen gerade erschienenen Aufzeichnungen mit dem Titel "Witterungen". Berühmtheit erlangte Gracq vor allem durch seine Romane "Auf Schloß Argol" (1938) und "Das Ufer der Syrten" (1951), was nicht heißt, dass er hierzulande zu den vielgelesenen französischen Autoren gehört, obwohl ein Großteil seines Werkes mittlerweile in deutschen Übersetzungen bei diversen Verlagen vorliegt.

Seine Figuren, so charakterisiert Julien Gracq in seinen Aufzeichnungen die Protagonisten seiner Romane, seien Grenzbewohner mit unbekanntem Geburtsort und -datum. Sie seien zudem unverheiratet, hätten keine unterhaltsberechtigten Kinder, keinen Beruf, wohnten nie zu Hause, verbrächten ihre Zeit im Meer und im Wald, in Gondeln und auf Kanonenbooten. Ihre Sportarten seien der Wachtraum, das Nachtwandeln. Wachträumerisch und zugleich kalkuliert und treffsicher ertastet auch der Autor selbst in seinen täglichen Prosa-Notizen seine Umgebung, die Geschichte in ihren Wechselwirkungen, die Literatur und sein eigenes Schreiben. Innerhalb seines vielfältigen Werkes ist eine Entwicklung vom epischen zu einer zunehmend freien, reflektierenden und fragmentarischen Prosa zu beobachten. Gracq beginnt 1954 während der stockenden Arbeit an einem Roman mit kurzen Notizen, die ohne weiteres Programm entstehen und die sich im Laufe der Jahre zu einem eigenen Genre herausbilden.

Die nun vorliegenden Aufzeichnungen, in der behutsamen und gelungenen Übersetzung von Dieter Hornig, setzen unvermittelt ein, und sie wechseln fortan zwischen Reise- und Landschaftsbeschreibungen, Erinnerungen, Betrachtungen zur Geschichte, zur Ästhetik; nicht zuletzt räsonnieren sie in unterschiedlichen Tonlagen über die Literatur selbst, über das Lesen und Schreiben. "Lesend schreibend", so heißt denn auch der Titel eines anderen Bandes von Gracq (ebenfalls bei Droschl), in dem das Schreiben als eine Bewegung, die der des Lesens gleicht, betrachtet wird, wobei sich das Wort darin verhalte "wie ein bewegter Körper". Seine wichtigsten Leseerlebnisse fasst er wie folgt zusammen: "Für mich gab es Poe, als ich zwölf war - Stendhal, als ich fünfzehn war - Wagner, als ich achtzehn war - Breton, als ich zweiundzwanzig war. [...] Und vor ihnen gab es, jede einzelne dieser Saiten mit dem dünnen Schnabel seines Spinetts anreißend, bevor sie unter dem Hammer des Pianofortes erklangen, Jules Verne. Ich verehre ihn ein bißchen kindlich. Ich mag nicht, daß man ihn vor mir schlecht macht. Seine Mängel, seine Schluderei rühren mich. Ich sehe ihn immer wie einen Block, der mit der Zeit Patina ansetzt, ohne abzubröckeln. Er ist mein Primitiver."

Mit den jetzt vorliegenden Fragmenten entsteht eine thematisch eher unverbundene Kette von Texten, die ein wechselhaftes Neben- und Miteinander von reflektierenden, ironisch-lakonischen bis hin zu bewundernden Ausführungen über prägende literarische Vorbilder beinhalten. Seine Prosaeintragungen geben sich gelegentlich aphoristisch-pointiert, mitunter auch irritierend apodiktisch und vorurteilsgeladen. Vorurteile scheinen gelegentlich bewusst auf die Spitze getrieben, vielleicht um eine Art Widerspruchsgeist, das Unzeitgemäße gegen das Zeitgeistige zu provozieren. Besonders die teilweise respektlosen Bemerkungen ­ der Autor nennt sie selbst respektlos - über den Nouveau Roman lassen aufhorchen. Gewiss sei, dass der Roman überhaupt vollständig das eingebüßt habe, "was von seiner Geburt an sein Gift und seine Tugend ausmachte und vielleicht sein einziges wirkliches revolutionäres Potential, nämlich das Begehren zu wecken". Hier möchte man, wie an anderen Stellen, widersprechen, gerade was die Werke Nathalie Sarrautes und die geschichtsträchtigen und zugleich sinnlichen Romanwelten Claude Simons angeht. Wie für den Roman so hält Gracq auch für das einzelne Fragment die Forderung nach Abrundung und Geschlossenheit aufrecht.

Letztlich vermeiden aber die Notizen durch einen immer wieder neu ansetzenden und wandelbaren Gestus, den für eine aphoristische Schreibweise häufig so typischen begrifflich-philosophierenden und zuweilen altherrenhaften oder "verJüngerten" Tonfall. Sie vermeiden auch das Bemühen um authentische Selbstbespiegelungen im Sinne eines Arbeitsjournals. Vielmehr bewegt sich der Leser durch ein Labyrinth einzelner in sich abgerundeter Miniaturen, die sich im Verlauf des Lesens zu einem losen zufälligen Mosaik fügen. "Gracqs Hefte enthalten", so die Herausgeberin der Pléiade-Ausgabe Bernhild Boie, "eine Fülle von disparaten und zusammenhanglosen Texten, deren Ordnung die der Entstehung ist und wie sie zufällig. Das Schreiben, aus dem sie hervorgehen, ist seinem Wesen nach unabgeschlossen und planlos. Das Fehlen einer Gesamtkomposition oder Zusammenschau macht aus den Texten Prosastücke, Teilergebnisse eines beweglichen Schreibprozesses. Der einzelne Text jedoch hat nichts Vorläufiges, nichts Unvollendbares. [...] Seine Prosastücke brechen nicht mit dem letzten Satz ab, sondern münden in ihn, werden von ihm mit abschließendem Nachdruck eingelöst."

Es sind neben einigen Fernblicken in die Topographie Venedigs überwiegend die Landschaften der Bretagne, der Vendée und der Loire, die der Autor bereits in anderen seiner Werke wie Gemälde heraufziehen läßt. An der Loire in Saint Florent-le-Vieil, einem Ort zwischen Angers und Nantes, wurde er 1910 geboren; dort verbrachte er Kindheit und Jugend, und dorthin ging er nach seinen Pariser Jahren, wo er ab 1948 als Lehrer an einem Gymnasium Geschichte und Geographie unterrichtete, wieder zurück. In Saint Florent-le-Vieil lebt und schreibt der heute über Neunzigjährige. Es ist das Land der Kindheit und der Altersjahre. Dieser Gegend, in der die Loire kurz vor ihrer Mündung in den Atlantik eine märchenhaft-verzauberte Kulisse in wechselndem Licht bildet, sind die meisten Landschaftsbeschreibungen gewidmet. Der Blick des Spaziergängers auf die Natur, das Sehen und Aufspüren, das poetische Fokussieren pflanzlicher Mikrowelten wird von einer ungewöhnlichen, beinahe körperlichen Einfühlung geleitet, die den Leser in ihren Bann zieht. "Gracq lesen heißt für mich", so umschreibt es einmal die Schriftstellerin Hélène Cixous, "sich in in den Wald führen zu lassen, ohne zu fragen, wie weit oder wohin, ziellos." Mysteriöse Landschaftsphysiognomien lassen neue Welten und auffällig artifizielle Terrains entstehen. Auch die Reflexionen über Revolutionen und Aufstände sowie die Erinnerungen an Kriegserlebnisse fesseln in ihrer eindringlichen Bildlichkeit. So etwa seine Schilderungen von Dünkirchen, die gelegentlich an die dunklen und ausweglos-zynischen Bild- und Sprachwelten Célines - und in manchem wohl auch an die Schauplätze seines langjährigen Freundes Ernst Jünger - erinnern. "Wir hielten bei jedem Bauernhof an; wir richteten das Maschinengewehr auf die Tür, drückten uns an die Mauer und klopften dann mit dem Finger an den Fensterladen. Am Ende war das beinahe aufregend. Es ließ sich unmöglich erraten, welcher Teufel uns aus dem Sack hüpfen würde. Die großen Söldnerbanden... Niemand schlief: überall klebten weiße Wangen im Dunkel der Nacht an den Scheiben. Die ländliche Stille war absolut geworden: die Erde war jetzt wie verlassen." Die Schlacht- und Geschichtsfelder des ersten Weltkrieges und die Spuren ihrer Monstrosität werden in der Beschreibung einer unheimlichen Topographie, eines von der Natur wieder überwachsenen und zugleich von Verdrängung erstarrten Geländes erneut heraufbeschworen: "Die Schlachtfelder von Verdun: überall kleine Dickichthölzer, rauh spröde wie Haarbüschel, die mit kleinen, ungleichen Scherenschnitten ganz kurz gestutzt wurden. Die Forts sind verrostet wie uralte Schiffswracks, geduckt und eingezogen wie ein Kopf zwischen enormen Maschinen hämmern - im Lehm gesunkene Panzerkreuzer, ihr Beton in Form von Knollen, von geologischen Linsen taucht im Schnitt da und dort auf. Hier herrscht auf diesen wenigen Quadratkilometern Land - das weder unbebaut noch wild ist sondern: stillgelegt - das merkwürdige Schweigen eines niedergeschlagenen, betäubten Tiers. [...]"

Hatte Julien Gracq sich noch zu Beginn seiner schriftstellerischen Anfänge im Umkreis des Surrealismus bewegt, nahm er zeit seines Lebens eine bewusst distanzierte Position zum Pariser Literaturbetrieb ein. Den Prix Goncourt, der ihm 1951 für seinen Roman "Le Rivage des Syrte" 1951 zuerkannt wurde, lehnte er ab. Von der surrealistischen Bewegung, deren Wellen er sich schriftstellerisch nicht anpasste, distanzierte er sich später zunehmend, seine Einschätzung André Bretons wird zunehmend skeptischer. Dennoch schreibt er dieser Gruppe bis heute einen unvergleichlichen Rang innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts zu. "Keine Bewegung hat je ein solches Saatbeet schimmernder Pailletten betreten, und ihre Stärke liegt darin, daß sie allein ein ganzes Klima, eine ganze Jahreszeit war, in der die hohen Blumen nur deshalb so schön aussahen, weil sie alles wieder ergrünen ließen. Vielleicht hat es - ich weiß es nicht - Schulen gegeben, die reicher an einzelnen Genies waren, aber der Fundus des Surrealismus ist von einem Glanz und einer Vielfalt, für die ich nirgends etwas Gleichwertiges sehe."

"Lettrines", so der französische Original-Titel der nun vorliegenden Aufzeichnungen, bezeichnet Schmuckinitialen, die in mittelalterlichen Handschriften die Anfänge von Kapiteln und Abschnitten ornamental verzieren. Gracq betont mit diesem Titel den mit jeder Eintragung neu einsetzenden buchstäblichen Wechsel seines Gegenstandes. Diese deutlich sprach- oder gar buchstabenbezogene Bedeutung von "Lettrines" verblasst in dem deutschen Titel, obwohl andererseits die Zweideutigkeit von "Witterungen" durchaus dem immer wieder neuen Aufspüren von Schreibanlässen entgegenkommt. Der deutschsprachige Leser hätte sich hier allerdings für die Übersetzung und für die Edition überhaupt in einem Nachwort einige Informationen gewünscht, auch wenn - das sei eingestanden - ein unkommentierter Text zuweilen ein unvoreingenommenes Lesen ermöglicht. Doch weder ein Vorwort noch der Buchdeckel geben hier genauere Hinweise. Einzig die Verlagsankündigung erwähnt, dass es sich bei diesem 1967 erschienenen Band um den ersten Teil der zweibändigen "Lettrines" handelt und eine Übersetzung des 1974 erschienenen "Lettrines II" geplant ist. Abschließend sei hinzugefügt: Farbkombinationen von Bucheinbänden sind sicherlich Geschmackssache, aber die Verbindung von Currybraun und Türkis blendet ein wenig das Auge und durchkreuzt dazu die assoziierten Farbwelten der abgetönten Gracqschen Fluss- und Küstenlandschaften. Das außergewöhnliche Leseerlebnis wird dadurch aber keineswegs beeinträchtigt.

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Julien Gracq: Witterungen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Dieter Hornig.
Literaturverlag Droschl, Graz 2001.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3854205759

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