Lust und Liebe in El Paso

Erzählungen des Amerikaners Dagoberto Gilb

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Holzschnitte von Frauen", ein merkwürdiger Titel für ein Buch mit erzählerischen Texten. Ein Titel, den man sich merkt und merken sollte. "Holzschnitte von Frauen", kein Ausstellungskatalog, keine kunstgeschichtliche Abhandlung, sondern ein Band mit Erzählungen des amerikanischen Schriftstellers Dagoberto Gilb.

Bereits die Abbildung auf dem Schutzumschlag zeigt an, worum es in diesem Buch vor allem geht: Eine nackte Frau sitzt auf einem Stuhl, auf ihrem rechten Schenkel liegt aufgeschlagen Kafkas Buch "Das Schloss". Sex, Liebe, Frauen, Begehren, aber auch das Schreiben, die Kunst und das Verständnis von Kunst und Künstlertum sind Gilbs Themen. Doch die Größenverhältnisse auf dem Bild - einem Holzschnitt - geben auch die Gewichtung dieser Themen wieder.

Vier der zehn Erzählungen tragen einen Frauennamen im Titel, eine heißt "Schreien", eine andere "Die Kissen" - weitere Indizien dafür, dass Dagoberto Gilb eine Art Konzeptbuch zusammengestellt hat, in dem er menschliche Beziehungen und körperliche Liebe ins Zentrum rückt. Er macht das auf ganz unspektakuläre Art, völlig ohne Verklemmtheiten und falsche Scham und gleichzeitig mit so großer Konzentration und sprachlicher Kompetenz, dass ihm keiner dieser Texte auch nur in Ansätzen ins Schlüpfrige oder gar Pornographische abzurutschen droht. Nicht einmal für Voyeure eignen sich diese Erzählungen. Denn auch wenn Gilb seinen Figuren, die meist der sozialen Unterschicht entstammen, großes Interesse am Sex zuschreibt, geht es ihm in den meisten Erzählungen immer auch noch um etwas anderes. Da ist beispielsweise der Rezensent, der unbedingt und dringend einen Text abliefern soll, sich aber in diversen flüchtigen Bekanntschaften verirrt. Da ist die Grenzsituation der USA zu Mexiko am Beispiel der Städte El Paso und Ciudad Juarez. Die Menschen dort leben in einer Art Schizophrenie, denn obwohl sie mexikanische und somit spanisch sprechende Nachbarn haben, grenzen sie sich von ihnen ab. Es herrscht ein latenter Rassismus, immer wieder versichern sich die Menschen der Herkunft ihres Gegenüber, wollen wissen, ob er Amerikaner oder Chicano ist. Gilb versucht, diesem Anachronismus mal mit Ironie, mal mit Sarkasmus zu begegnen, um ihm seinen Stachel zu ziehen.

Gilb, der in Los Angeles geboren wurde und heute in Texas lebt, huldigt dieser Gegend "im allertiefsten Westen" der USA mit diesem Buch, in dem es einmal heißt: "Es ist dunkel, man sieht nur die rote Glut des Joints, Mayelas gelbes Kleid, Todds weißes, am Kragen zugeknöpftes Hemd, Sterne, die uns daran erinnern, dass unter und um uns die Wüste ist, der Mond, und rechteckige rote Heckleuchten, die am Ende der Straße immer kleiner werden und schließlich verschwinden." In diesem Bild kulminieren viele Motive dieses Buches: Die Mann-Frau-Situation, die Poesie, die Lebenslust, die Landschaft und ein wenig auch Melancholie und Vergänglichkeit.

"Holzschnitte von Frauen" ist bei aller Souveränität der Texte ein rohes Buch, ein Buch, das nicht fertig und perfekt ist, weil die Geschichten Freiräume lassen für eigene Fortsetzungen, für Echos und Gedanken. Gilbs deutscher Verlag setzt damit konsequent seine Zusammenarbeit mit diesem Autor fort, dessen ungekünstelter Stil und direkte Sprache sicher zu Recht Vergleiche mit Carver oder Hemingway erlauben und ihm in den USA bereits mehrere Preise und Stipendien eingebracht haben.

Titelbild

Dagoberto Gilb: Holzschnitte von Frauen. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2002.
198 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3627000927

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