Lauf, Jäger, lauf

Julia Leigh tanzt in "Der Jäger" mit dem Tiger

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sprache in diesem Roman ist knapp und dicht, kein Wort zuviel, nie eins zuwenig. Schlichte und nüchterne Sätze, nie aufgeregt, nie spielerisch, sondern einfach und gerade deshalb treffend. Klare Strukturen, dem Denken des Protagonisten entsprechend.

Dieser ist für den Leser namenlos. M. ist ein Jäger, mehr nicht. Und als solcher ist er auch Denker, gezwungen abzuwägen und zu analysieren. Gefühle lenken ab, machen unvorsichtig, können Verletzung und Tod bedeuten. Deshalb muss der Jäger sich abkapseln, sich absichern. Bindung an andere nur dann, wenn und in soweit sie Überleben bedeutet; Freundlichkeit nur dann, wenn sie notwendig ist, um nicht aufzufallen. Für seine neue Umgebung, für die Unwissenden, wird M. so zu Martin David, Naturforscher: Eine Hülle wie andere zuvor.

Merkwürdig, wie man dem Denken dieses Mannes folgt. M. beobachtet genau, viel genauer, als der Mensch es gemeinhin tut. Eine Fehlannahme kann für ihn den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen, deshalb muss er alles in sich aufnehmen und verarbeiten. Einschätzungen von Situationen und Personen in einem Satz, Reaktion darauf wie eine Maschine, die sich selbst befiehlt, einem strengen, selbstverfassten Regelwerk folgt. Und doch auch instinkthaft, wie ein Tier. Gerade diese Mischung macht die Spannung aus, die durch den gesamten Text spürbar ist, die den Leser hinter M. hertreibt, als jage er ihn.

M. ist auf der Suche nach dem letzten Exemplar des tasmanischen Tigers, besser: nach dessen genetischen Material, für eine ominöse Firma im Hintergrund. Diese Jagd ist verboten, deshalb muss M. sich an die Umgebung anpassen, die Naturhüter umgehen und täuschen.

Der Leser ist Teil dieser Jagd und doch außen vor. Man fühlt die Spannung des Verfolgens und kann sich doch distanzieren, bloßer Zuschauer bleiben, gleichsam wie durch ein Mikroskop den Jäger beobachten, wie er sich verändert. Gedankengänge werden fremd und sind dennoch zwingend logisch. Die Welt reduziert sich für M. und den Leser auf das Wesentliche: auf den Weg, der vor dem Jäger liegt, auf die Aufgabe, für die er geschickt wurde und bezahlt werden wird, auf das Zelt, die Spanne eines Tages, die Stunden einer Nacht.

Zwischenzeitliche Rückkehr in die Zivilisation bedeutet immer Schock und Verwunderung. In der Wildnis ist alles deutlich und klar, Menschen dagegen sind kompliziert und erfordern überlegte Reaktionen. Zwischenmenschliche Beziehungen sind M. rätselhaft - dennoch erwecken sie seine Neugier. Er nähert sich anderen Menschen wie ein Tier, das etwas Neues und Aufregendes erblickt - scheu und doch unaufhaltbar angezogen.

Nur in der Wildnis verliert M. sich, wird ein Teil des großen Ganzen, ist Tiger und Mensch, Jäger und Beute. Er träumt: "Er wechselt die Gestalt, verschluckt das Tier. Die Augen in seinem Kopf gehören nicht mehr ihm, kurzes, dichtes Fell bedeckt seinen Nacken, und seine Wirbelsäule wird breit und stark, wächst aus seinem Rücken heraus, endet in einem langen, steifen Schwanz. Er hängt seinen Körper an diese starke Wirbelsäule, höhlt seinen Bauch aus, läßt seine schlaksigen Glieder schrumpfen. Sein Arm ist am Ellbogen geknickt, und eine Pfote, keine Hand, ruht auf seiner knochigen, konvexen Brust." Er umwirbt das Tiger-Weibchen von weitem im stummen Zwiegespräch, die Jagd wird zur Verführung. Er sucht nach ihrem Wesen und wird ihr immer mehr gleich, ist ihr Gefährte, findet nach langer Suche Spur und Tier.

Dieses Hineindenken ins Tierische ist irritierend und faszinierend zugleich. Immer wieder ruft sich der Jäger zurück aus dieser Art von Traum, in dem er Teil der Tigerin, bei ihr und mit ihr ist. Immer wieder jedoch gleitet er auch wieder zurück in die Geborgenheit dieser Einheit. Ganz scheint er nur dann zu sein, wenn er sich durch die Beute vervollständigt.

Fragen tun sich auf, Antworten drängen jedoch nicht nach. Die Figur des Jägers bleibt bis zum Ende fremd, obwohl man sie so lange verfolgte und ihre Gedanken zu kennen glaubt. Durch diese Balance zwischen Fremdheit und Er-Kenntnis, Auflösung und Entfaltung des Wesens des Jägers wird Julia Leighs Roman verstörend und anregend zugleich. Eine Sehnsucht nach der Einheit mit sich selbst und der Umgebung entsteht - und gleichzeitig Angst vor dem Verloren-gehen, dem der Jäger so nah kommt. Der Leser wird und bleibt gefangen im dichten Geflecht des Textes.

Titelbild

Julia Leigh: Der Jäger. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Christel Dormagen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
201 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3518413228

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