Zwischen Popkultur und Realsatire

Salman Rushdies New York-Porträt "Wut"

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie würde es aussehen, wenn Umberto Eco seine Romane nicht in den Tiefen der philologischen Vergangenheit, sondern in den internet-getränkten und eitelkeits-verseuchten Oberflächen der Gegenwart ansiedeln würde? Vielleicht würde dabei so etwas wie das in diesem Jahr in der deutschen Übersetzung von Gisela Stege erschienene New York-Porträt "Wut" von Salman Rushdie herauskommen.

Dieses Porträt präsentiert sich immer unterhaltsam und auf der Höhe des Pop-Diskurses. Zu einem außerordentlich günstigen Zeitpunkt erschienen, avancierte es zu einer, wenn nicht zu der prophetischen Beschreibung der Metropole am Vorabend des 11. Septembers, und sein Autor wurde zum gern gesehenen und gehörten Gast in den deutschen Polit-Talkshows.

Als Grundmuster bemüht Rushdie die in den Zeiten der Globalisierung erneut hohe Aktualität beanspruchende Metapher des 'Melting Pots' im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ethnische und kulturelle Simultaneitäten mit großer Dynamik und hohen Geschwindigkeiten sind die ästhetischen Prinzipien, die Rushdie seinem vielfach zu breit angelegtem und synthetisch anmutendem Panoramas zeitgenössischer E- und U-Kultur und deren schleichenden Übergängen zu Grunde legt. Dieses Spektrum beschwört der Autor nicht nur im direkten Zitat, im abstrakten Vergleich und der ständigen urbanen Präsenz, sondern auch durch den Wechsel der Stillagen, der die Form des Fachdiskurses und des Slangs neben das Genre des Kriminal- oder des Stadtromans stellt. Diese ästhetische Gemengelage ist die Basis für die ebenso beiläufig eingeflochtene wie penetrant auffällige und von Political correctness durchtränkte Kritik an der Nivellierung der westlichen Kultur und an den hohlen Phrasen der Werbebotschaften. Innerhalb dieser stilistischen Vielfalt entwickelt Rushdie eine große Anzahl rasant ablaufender, aus der Vergangenheit in die Gegenwart bzw. im wahrsten Sinne des Wortes in die Zukunft reichender Handlungsstränge.

In den Mittelpunkt seines repräsentativen und alle erdenklichen psychischen Deformationen abdeckenden gesellschaftlichen Querschnitts - von der Straßengang bis zur High Society - stellt Rushdie den in New York lebenden Professor Malik Solanka (Alter: 55; Beruf: Ideen-Historiker im Ruhestand und cholerischer Puppenmacher), an dessen Problemen mit der polnischen Putzfrau er uns ebenso teilhaben lässt, wie an seinem Aufstieg zu einer Art neuem Polit-Messias.

Über die mitunter autobiografisch anmutenden Rahmenbedingungen informieren uns bereits die einleitenden Sätze, um uns mit dem Hinweis auf sein Junggesellendasein auf eine falsche Fährte zu führen. Denn die sexuellen Sorgen, Begierden und Nöte, aber natürlich auch das Verhältnis zur geschiedenen Frau und die Annäherung an seinen Sohn, aber auch die Lust auf junge Frauen sowie die folgenden Bindungsängste bilden einen wesentlichen psychologischen Handlungsstrang des Romans.

Gleichberechtigt neben diesen, mit Generationsproblemen verbundenen und immer wieder gerne beschworenen Männerphantasien, eröffnet die zunehmende Ökonomisierung des kulturellen Gedankenguts eine weitere wichtige thematische Dimension. War und ist eine philosophische Fernsehserie und dessen zunehmend popularisierte und den Bedingungen des Marktes angepasste Protagonistin, Braingirl, - eine Puppe, die philophische Probleme diskutiert und historische Grundlagen erläutert - über die Form der Rechteverwertung der Garant für Solankas finanzielle Unabhängigkeit, so mutiert der Professor im Laufe des Romans zu einer Art Creative Director im Bereich virtueller Science-Fiction-Geschichten.

Unterstützt durch Milo, ein Mädchen von der Straße, mit dem er zuvor eine seltsam inzestuös anmutende Vater-Tochter-Liebesbeziehung gepflegt hat, wird eine im Internet gestartete SF-Story zum weltumspannenden und alle Formen des Merchandisings umfassenden Produkt ausgebaut. Der Autor wird zum gefeierten Messias und die erfundene Fabel zum realen Vorbild einer Revolution, die die Fragen der Ureinwohnerschaft ebenso thematisiert wie die der ethnischen Zugehörigkeit. Dass Solankas neue Freundin, die "bildschöne politische Aktivistin" Neela Mahendra, ausgerechnet über dieses Land schon seit langem eine Fernseh-Dokumentation vorbereitet, Solanka ihr nachfliegt und sie sich für sein Leben opfert, schließt die etwas konstruierte Klammer in Rushdies Buch mit einem furiosen melodramatischen Finale.

Auch wenn man trotz angenehmer Unterhaltung und distanzierter Zurückhaltung den Roman nicht als barocke Realsatire preisen, den Einzug der Popkultur nicht als Form des intellektuellen Diskurses feiern und vielleicht auch den hysterischen Zug des Romans nicht als Zeichen der vergangenen Zeit werten will, auf den Film - als fest etablierter Teil der literarischen Merchandising-Kultur - braucht man sicher nicht lange zu warten.

Titelbild

Salman Rushdie: Wut. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Gisela Stege.
Kindler Verlag, Berlin 2002.
382 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3463404060
ISBN-13: 9783463404066

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