Er stinkt

Der Niederländer Jan Brokken beweist erzählerische Klasse

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Tischtennisspieler auf der südkaribischen Insel Curaçao als Protagonist eines Romans dürfte in Deutschland um ein Vielfaches schwerer vermittelbar sein als in den Niederlanden, in denen die Sportart Tischtennis einen wesentlich höheren Stellenwert besitzt. Zudem ist Curaçao trotz Autonomie immer noch ein Teil des niederländischen Königreichs und somit dort gewissermaßen ein natürliches Thema. Deutschlands bekanntester Fernsehkritiker würde angesichts dieses Helden wohl seinen notorischen Totschlagesatz zücken, der da beginnt: "Was interessiert mich ein ...?" Um solchen Vorurteilen vorzugreifen, ist es nötig, ein wenig auszuholen, um zu zeigen, dass und weshalb es sich bei Jan Brokkens "Der traurige Champion" um einen erstklassigen Roman handelt.

Im Mittelpunkt steht also die Lebensgeschichte eines in seiner Jugend sehr erfolgreichen, einzelgängerischen Tischtennisspielers namens Riki Marchena, der - in seiner Heimat zu Zeiten des Erfolgs als Volksheld gefeiert - bis zur Erzählgegenwart, in der er ein Mittvierziger ist, völlig herunterkommt. Er raucht Crack, läuft in von Kot starrenden Hosen herum, haust in einer verdreckten Bude und wäscht Autos, um an das Geld für Stoff zu kommen. Die Transformation eines Menschen von einem eitlen, schönen, von seinem Sport besessenen jungen Mann zu einem häßlichen, stinkenden, grenzenlos phlegmatischen Frühvergreisten, den schon das Schuhebinden ermüdet, könnte größer nicht sein, und der Roman bezieht einen Großteil seiner Spannung aus der Frage, wie es zu dieser bemerkenswerten Wandlung hatte kommen können.

Literarisch interessant ist dieser Roman vor allem aufgrund seiner modernen Erzählweise. Der Gesamttext ist verteilt auf insgesamt zwölf Ich-Erzähler (einer davon der Protagonist selbst), aus deren Stimmen sich der Leser selbst eine Annäherung an die "Wahrheit" herausinterpretieren muss, da es keine vortretende höchste Textinstanz gibt und die zwölf Stimmen sich teilweise gegenseitig relativieren. Die Geschichte Riki Marchenas wird zudem nicht chronologisch, sondern sprunghaft erzählt: So beginnt der Text aus der Perspektive einer ehedem in Marchena verliebten Doppel-Partnerin, die den Moment seines größten Triumphs, der über zwanzig Jahre zurückliegt, schildert. Dann wechselt er mit einem radikalen Schnitt in die Erzählgegenwart, in der ein neunjähriges Mädchen auf den gefallenen Helden herabsieht, der gerade einen Wagen wäscht. Danach kommen sein Trainingspartner, seine Trainerin, seine zwei Brüder, er selbst und weitere Figuren aus seinem Umfeld zu Wort. Im Erzählverlauf erfahren wir immer mehr über Marchena und den tragischen Verlauf seines Lebens, Momente der Kindheit werden erwähnt, rekurrent wird auch die triste Gegenwart eingeblendet, um dann wieder zu Passagen aus seinem Sportlerleben oder seiner Zeit im Gefängnis, in der er völlig zerbricht, überzugehen. Im Gefängnis lernt er die Schriften des persischen Propheten Zarathustra kennen, dessen Lehren er aufsaugt (auf Nietzsches Adaption stößt er erst später). Alle Kraft und Hoffnung versinken dort in grenzenlosem Pessimismus ohne Aussicht auf Heilung.

Brokken gelingt es trotz komplexer Erzählweise, einen leicht lesbaren Roman zu schreiben, viel leichter konsumierbar beispielsweise als die auch multiperspektivisch verfahrenden Romane von Antonio Lobo Antunes, der sich ja beständig hinterfragt, ob er denn nicht immer noch zu klar schreibe, obwohl selbst der mit Masochismus begabte Leser bei dessen jüngsten Romanen kaum noch weiß, wie er die verwirrende Lektüre bis zum Ende durchstehen soll. Brokkens Erzählweise bleibt immer straff und überschaubar, was durchaus als Beleg für erzählerische Gewandtheit gelten kann. Brokkens Fähigkeit, Erzählstrategien elegant anzuwenden, zeigt sich auch, wenn er Themen und Motive als eine Art Kupplung zwischen den Kapitelgrenzen überlappen lässt und mit diesem Kunstgriff den Wechsel von einem Erzähler zum anderen fließend gestaltet. Man nehme nur den Übergang vom ersten zum zweiten Abschnitt: Gerade schwärmt die sich an ihre Verliebtheit erinnernde Partnerin Marchenas noch von dessen erotischem Schweißgeruch, und eine Zeile weiter stellt ein kleines Mädchen mit kindlicher Grausamkeit fest: "Er stinkt."

Der Roman überzeugt also im Entwurf und im Detail. Zu den emotional intensivsten Passagen des Buchs gehören ohne Zweifel die Szenen, in denen der psychisch völlig entregelte Vater Marchenas, der in wirrer Eifersucht mit einem Fleischermesser auf seine Frau eingestochen hatte, nach einer ziellosen Irrfahrt vor den Augen seiner Kinder Salzsäure schluckt, woran er später im Krankenhaus qualvoll stirbt. Diese grausige Sequenz wird rückblickend aus den Perspektiven der drei Brüder erzählt, die das blutige Geschehen im Haus und den Suizid des Vaters von der Rückbank des Autos aus hilflos mitdurchleiden mussten. Dadurch erhält diese Binnengeschichte viel mehr Facetten, als es monoperspektivisch möglich wäre. Letztlich erzählt Brokken hier wie andernorts immer auch von der Rätselhaftigkeit des Menschen, von der Nicht-Festlegbarkeit eines "Charakters": Der Vater wurde von seinen Kindern verehrt, und in einem einzigen, unerklärlichen Moment wird er zu einem unergründlichen Monster. Brokken erweist sich als Geistesverwandter Büchners, der seinen Woyzeck sagen lässt: "Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht."

Brokken zeigt in seinem Verfallsroman (wenn man einen negativen Entwicklungsroman so nennen darf), dass auch ein karibischer Tischtennisspieler ein fesselnder Erzählgegenstand sein kann, wenn er wie in dem vorliegenden Fall zu einem philosophisch grundierten, exzellent erzählten und berührenden Roman benutzt wird, welcher, nebenbei gesagt, auch eine hochinteressante politisch-soziologische Ebene über die uns Deutschen doch sehr fremden niederländischen Antillen enthält. Nach "Die blinden Passagiere" zeigt Jan Brokken ein weiteres Mal, dass er auch ausserhalb der Niederlande mehr Beachtung verdient hätte.

Titelbild

Jan Brokken: Der traurige Champion. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002.
384 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3552051791

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