Medea sucht ein Publikum

Anmerkungen zur Neuauflage von Reclams "Lexikon der antiken Mythologie"

Von Stefan SchornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schorn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die sechste Auflage von "Reclams Lexikon der antiken Mythologie" von Edward Tripp ist ein fast unveränderter Nachdruck der ersten Auflage von 1974, die selbst im wesentlichen eine Übersetzung von "Crowell's Handbook of Classical Mythology" von 1970 ist. Das Lexikon richtet sich an ein "nichtspezialisiert[es] Publikum", so das Vorwort des Übersetzers Rainer Rauthe. Während die amerikanische Ausgabe unbebildert ist, hat der Reclam Verlag eine Reihe sehr gut gewählter Schwarzweißabbildungen beigefügt. Vom Übersetzer stammt zusätzlich ein Verzeichnis von Textausgaben antiker Autoren (einschließlich Übersetzungen) und von weiterführender, aktueller Sekundärliteratur.

Die thematische Breite der Artikel ist beachtlich. So finden sich Lemmata zu Göttern, Beinamen von Göttern, Heroen, zentralen und marginalen Personen der Mythologie, aber auch zu Realien, Städten, Inseln, Landschaften, Tieren, Sternbildern und einigen antiken Autoren, die im Hinblick auf die Überlieferung der Mythen von Bedeutung sind.

Die einzelnen Artikel, die in ihrem Umfang sehr variieren, sind fesselnd und mit Sachverstand geschrieben. Vor allem die längeren Artikel (z. B. "Dionysos", "Herakles", "Poseidon", "Trojanischer Krieg") zeigen die Fähigkeit des Autors, die zahlreichen, oft divergierenden Berichte gut strukturiert und selbst für den Nichtfachmann verständlich darzustellen. Einer klaren Darstellung zuliebe verzichtet Tripp bewußt darauf, bis ins Detail jede abweichende Überlieferung zu referieren. Außerdem nennt er aus demselben Grund nur selektiv diejenigen antiken Schriftsteller, die die einzelnen Versionen der Mythen überliefern; statt dessen gebraucht er allgemeine Formulierungen wie "einige überliefern" und "während andere behaupten". Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der so erzielten leichten Lesbarkeit der Artikel. Auf der anderen Seite ist das Lexikon dadurch in vielen Fällen für Altphilologen, Kunsthistoriker, Musikwissenschaftler und Vertreter der neueren Philologien (die drei zuletzt genannten Gruppen sind zur Zielgruppe der Nichtfachleute auf diesem Gebiet zu zählen) wenig hilfreich, wenn sie feststellen möchten, auf welche antike Vorlage ein Maler, Schriftsteller oder Komponist für sein Werk zurückgegriffen hat.

Tripp hat für sein Lexikon vor allem die "allgemein zugänglich[en] und verbindlich[en] literarisch[en] Quellen" der Antike, so der Übersetzer, verwendet. Die konsequente Anwendung dieses Verfahrens führt aber dazu, daß etwa unter "Dionysos" die "Dionysiaká" des Nonnos (ein Epos von 48 Büchern aus dem 5. Jahrhundert n. Chr.) nicht einmal erwähnt werden, ebensowenig wie die Tragödie "Medea" des Philosophen Seneca an entsprechender Stelle. Hier hätte Tripp den Kreis der herangezogenen Quellen unbedingt erweitern müssen.

Hilfreich wäre es außerdem, wenn Tripp nicht nur den "großen" Quellenautoren eigene Artikel widmen würde (zum Beispiel "Sophokles", "Euripides", "Vergil"), da der Nichtfachmann mit den bisweilen genannten Namen Stesichoros, Parthenios, Antoninus Liberalis nicht viel anzufangen weiß und bei der Suche nach einem klärenden Lemma enttäuscht wird.

Auch referieren die Artikel lediglich die antike Überlieferung; eine Interpretation und historische Auswertung findet man nur selten. Eine Ausnahme bildet der Artikel "Herakliden" mit einem Hinweis auf den Einfall der Dorer in die Peloponnes; oder der Artikel "Lupercalia", in dem der Autor eine Hypothese zum Ursprung des Festes gibt. Das Buch beschränkt sich weitgehend auf die griechische bzw. griechisch-römische Mythologie. Genuin Römisches kommt oft zu kurz oder fehlt ganz. So erwähnt Tripp im Artikel "Ceres" zwar das Fest der Cerialia, geht aber nicht auf den Zeitpunkt (19. April) und die Art der Feierlichkeiten ein. In den Artikeln "Pales", "Neptun" und "Vulkan" werden die entsprechenden Feste des römischen Festkalenders überhaupt nicht erwähnt, in anderen Fällen fehlen römische Gottheiten und ihre Feste ganz (Robigus/ Robigo; Furrina u. v. m.). Hier zeigt sich - wie übrigens auch sonst - das geringe Interesse des Verfassers am Kultwesen.

Leider ist die nachantike Rezeption der Mythen in Literatur, bildender Kunst und Musik völlig ausgespart. Wer sich hierfür interessiert, wird auch weiterhin auf Herbert Hungers "Lexikon der griechischen und römischen Mythologie" - die letzte Auflage ist 1988 erschienen - zurückgreifen müssen. Auch erschwert der weitgehende Verzicht auf Querverweise die Benutzung; unbedingt angebracht wären diese zwischen den Artikeln "Oichalia" und "Einnahme von Oichalia", "Dorer" und "Herakliden" und an vielen anderen Stellen. Die vom Übersetzer beigefügten Literaturhinweise sind gut gewählt, doch sind bei den Quellen die genannten wissenschaftlichen Ausgaben meist überholt.

Fazit: Wer sich intensiver mit antiker Mythologie und ihrer Überlieferung beschäftigen möchte, stößt bald an die Grenzen der Leistungsfähigkeit dieses Lexikons. Dieser Fall könnte auch bei der anvisierten Zielgruppe des Buches rasch eintreten. Wer sich lediglich von den antiken Mythen faszinieren lassen möchte und eine gute Darstellung sucht, wer ab und an ein Nachschlagewerk über die gängigsten Fassungen der antiken Mythen benötigt, ist bei "Reclams Lexikon der antiken Mythologie" an der richtigen Adresse.

Titelbild

Edward Tripp: Reclams Lexikon der antiken Mythologie.
Reclam Verlag, Stuttgart 1999.
560 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3150104513

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