Diagnose: Jazz

Geoff Dyer schreibt Portraits in schwarz-weiß

Von Daniel BeskosRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Beskos

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem "Buch über Jazz" kann man im Grunde nur misstrauisch gegenüber stehen. Viel zu nahe liegt die Vermutung, auf Aneinanderreihungen von Namen, Daten und historischen Fakten zu stoßen, auf eine Analyse, die erklären will, was sich durch Wörter und Zahlen eben so schlecht erklären läßt: emphatisches, rauschhaftes Erleben, Euphorie, Jazz als epiphanisches Moment. Ein zum Scheitern verurteiltes Projekt, möchte man also denken - wie eben die meisten Bücher über Jazz, die höchstens noch als Archive dienen können, als Nachschlagewerke für Randinformationen.

Geoff Dyers Zugang ist ein anderer. Für "but beautiful", im Original bereits 1991 erschienen, wählt er einen riskanteren Weg, aber den einzigen, der seinem Vorhaben angemessen erscheint: Er schreibt nicht über Musiker, sondern mit ihnen.

Die Ausgangsidee ist, dass es - wie ja auch in der Musik - in diesem Buch nicht um konkret Geschehenes geht, sondern um das, was das Geschehene in uns hinterläßt, die Spur, den Abdruck gewissermaßen. Dieser Abdruck kann nun für die späteren Betrachter (bzw. Hörer, Leser) wieder auf das ursprüngliche Ereignis (das Jazz-Konzert) hinweisen. Allerdings wird dieses Ereignis nur in der Vorstellung der zahlreichen Betrachter wieder real werden, und erlebt so viele höchst unterschiedliche "Wiedergeburten", die alle durchaus subjektiv und deshalb jeweils für sich äußerst stimmig sein werden.

Diese "Abdrücke", diese Spuren möchte Dyer in seinem Buch nachzeichnen. Er sucht sie an zwei Orten: zuerst in der Musik selbst natürlich, doch darüberhinaus auch in den Fotografien, die von den Musikern existieren, die meisten aufgenommen in Live-Situationen: "Die besten Jazzfotos", schreibt Dyer im Vorwort, "sind diejenigen, die vom Klang ihres Sujets durchdrungen sind. Auf Carol Reiffs Foto von Chet Baker auf der Bühne im Birdland hören wir nicht nur die spielenden Musiker [...], sondern auch das Hintergrundgeplauder und Gläserklirren im Nachtclub." Doch nicht nur die Musik wird auf dem Foto quasi spürbar, auch die den Moment der Aufnahme zeitlich umgebende Situation: Eine gute (Jazz-)Fotografie verweist nicht nur auf das, was einige Sekunden zuvor geschehen ist, sondern auch auf das, was gleich erst geschehen wird, was erst noch gesagt wird.

Dyer schreibt also mit den Musikern. Er benutzt die tatsächlichen, realen Musiker (u.a. Lester Young, Thelonious Monk und Bud Powell) als Vorlagen für seine Figuren und streift dabei immer wieder wahre Geschehnisse (etwa der Vorfall, bei dem dem Trompeter Chet Baker die Zähne ausgeschlagen werden). Und doch sind diese wirklichen Geschichten für ihn quasi nur Standards, über die er improvisiert, neue, eigene Geschichten und Soli erfindet.

Vorweg muss immer bedacht und akzeptiert werden: so, wie es geschildert wird, war es nicht in allen Einzelheiten, aber so könnte es sicher gewesen sein. Noch viel eher - und das ist die Leistung dieses Buches - war es so, wie es sich anfühlt.

Wenn die Geschichte des Jazz also als Standard funktioniert, dann gibt es auch ein Leitmotiv: Tragik. Der Jazz ist in diesen Geschichten für die Protagonisten wie eine tödliche Krankheit, der kaum einer von ihnen entkommen kann. Nicht zu Unrecht werden Gefängnis, Krankenhaus und Psychatrie neben der Bühne die "zweite Heimat des Jazz" genannt: Die Musiker reiben sich an der Musik und an ihrem Leben, das die Musik ist, auf. Der Zwang, jeden Abend kreativ sein zu müssen, wird übermächtig, der menschliche Ausnahmezustand "Produktion" wird zum Regelfall, eine "Kreativitätsroutine" stellt sich ein, und nur noch Drogen können die Kraft zum Weitermachen geben.

Beim Drogenkonsum landen sie dann auch alle früher oder später, Baker, Young und viele andere. Die meisten werden abhängig, dabei zunehmend egozentrisch, die Wahrnehmung reduziert sich immer weiter, bis zur Apathie. Fast autistisch wirkt ihr Spiel, sie sind sich ihrer Tätigkeit als Musiker nicht bewusst, spielen immer wie ferngesteuert, als ob die Musik sie benutzen würde, um durch sie hindurch herauszukommen, jeden Abend neu und anders.

Kaum einer der Musiker wurde über 40 Jahre alt, viele hatten sich schon mit Mitte Zwanzig völlig verausgabt und musikalisch wie körperlich ihren Lebenshöhepunkt überschritten. Zum Schluss bleibt das Krankenhaus, dessen weißes Interieur den schwarzen Jazz zu verneinen scheint.

Und doch enthalten diese Geschichten viel Positives, verweisen auf den Sinn hinter dem Leiden, eben auf die oben genannten Epiphanien. Darauf verweist auch der Titel selbst: but beautiful. Diskriminiert, drogenabhängig, unten, arm, aber: schön.

Im Nachwort "Tradition, Einfluss und Innovation" (so kritisch man diesem gegenüber auch sein muss, denn der Anspruch des Buches ist es ja, Atmosphäre und nicht Wissen zu verschaffen, aber dem widerspricht dieses etwas aufklärerische Nachwort) stellt Dyer noch einmal verschiedene weitere Entwicklungen des späteren Jazz zusammen.

Er nennt die Einflüsse der afro-amerikanischen, afrikanischen und asiatischen Musik und zieht vor allem den bemerkenswerten Bogen, dass sich einem heutigen Jazzhörer die Geschichte des Jazz nicht mehr chronologisch erschließt, sondern manchmal auch gegen den Zeitstrom. So etwa ist der Einfluss des Pianisten Bud Powell so omnipräsent, dass er in allen nach ihm kommenden Pianisten zu hören ist, und der heutige Hörer, der vielleicht an die Spielweise dieser heutigen Pianisten gewöhnt ist, fragt sich beim Hören von Powells Aufnahmen, was denn an diesen so besonders sein soll, er "hört sich doch an wie jeder andere Pianist". Dabei ist natürlich eigentlich gemeint, dass sich jeder andere Pianist anhört wie Powell (Ähnliches mit Coltrane, Davis oder Young).

Man bekommt mit "but beautiful" nicht nur eine Ansammlung tragischer Geschichten, man bekommt auch, und deshalb ist es ein gelungenes Buch, etwas viel Wichtigeres dem Jazz und seinen Protagonisten gegenüber: tiefen Respekt.

Titelbild

Geoff Dyer: but beautiful. Ein Buch über Jazz.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Müller.
Argon Verlag, Berlin 2001.
254 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3870244917

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