Ein hellwacher Träumer

Gesammelte Aufsätze zum Werk von Leo Perutz

Von Gerald FunkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerald Funk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nähme man Jorge Luis Borges' Genealogie der literarischen Moderne von Poe, "der Baudelaire zeugte, der Mallarmé zeugte, der Valéry zeugte, der Monsieur Teste zeugte", so ernst, wie es der argentinische Großmeister der kleinen Form eigentlich verdient, so wäre es um die Lendenkraft und den Lustfaktor eben dieser Moderne schlecht bestellt. Denn nicht zufällig beschließt Borges seine Geschlechterfolge mit einer Kunstfigur: nach Baudelaire präferierte man die Zeugungen im Geiste. Unsinnliche Kopfgeburten waren nicht selten die Folge, bei denen das intellektuelle Vergnügen in auffälligem Mißverhältnis steht zur Arbeit des Lesens. Ob man indes tatsächlich von den "lustfeindlichen Exerzitien" (Ludger Lütkehaus) der literarischen Moderne sprechen kann oder nicht präziser von den "leselustfeindlichen" sprechen muß, bliebe noch zu klären.

Allerdings hat es immer Ausnahmen gegeben. Und Leo Perutz ist in dieser Hinsicht ein interessanter Fall. Seine Bücher sind Kopfgeburten im Dienst des Lesevergnügens, mit absoluter intellektueller Präzision konstruierte Geschichten auch zum "interesselosen Wohlgefallen", zum Lustgewinn des Lesers. Während das aber in anderen Ländern keine Sünde ist, steht man in der deutschen Literaturgeschichte damit meist auf dem Index der Literarpietisten, denen die reine Lehre das Vergnügen vergällt. Während Autoren wie Jack London, Robert Louis Stevenson, Alexandre Dumas oder auch Georges Simenon, also Autoren unterhaltsamer Romane und Erzählungen, in ihren Ländern durchaus zum nationalen literarischen Kanon gehören, hat Perutz es bei uns nicht leicht gehabt. Zwar haben namhafte zeitgenössische Fürsprecher wie Kurt Tucholsky, Alfred Polgar, Carl von Ossietzky und Hermann Broch auf den Erzähler Perutz hingewiesen. Selbst Theodor W. Adorno, unser aller Hüter des anspruchsvollen Geschmacks, konnte ihm seine respektvolle, wenn auch eher unbeholfen enthusiastische Zustimmung nicht versagen. Doch das hat lange Jahre nichts genutzt. Wenn man den Autor in der Literaturwissenschaft überhaupt zur Kenntnis genommen hat, dann vor allem im Bereich der Genreliteratur. Er galt als Großmeister phantastischen Erzählens; was wiederum bei allen, die zum Flechten von Lorbeerkränzen und einem bildungsbürgerlich geblähten Verständnis von Dichtung neigen, mit einer gewissen Herablassung und einem Augenzwinkern honoriert wurde.

Es ist ein Glück für alle Leser dieser Welt - übrigens hätte das Borges, der Perutz schätzte, genauso gesehen -, dass sich dies inzwischen geändert hat. Einen wichtigen Anteil daran haben die Arbeiten Hans-Harald Müllers, der die Romane und Erzählungen von Perutz seit den späten 1980er Jahren mit hervorragenden Nachworten versehen bei Zsolnay neu ediert hat, der zusammen mit Brita Eckert einen der besten Ausstellungskataloge zur deutschen Literatur (Leo Perutz 1882-1952. Wien/ Darmstadt 1989) herausgegeben, eine Monographie verfasst und mit einer Bibliographie die Grundlage aller weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen geschaffen hat. Jetzt legt er zusammen mit Brigitte Forster einen Band vor, der die Beiträge zu einem internationalen Perutz-Symposium sammelt, das vom 20. bis zum 23. September 2000 in Wien und Prag stattfand.

Nun zeitigen solche eher rituellen als funktionalen Formen intellektueller Geselligkeit nicht immer ein Resultat in Buchform, das dem Gegenstand ihrer akademischen Zuwendung angemessen ist. Hier aber werden einem klugen und in wunderbarem Deutsch schreibenden Erzähler, der das verdient hat, zu einem überwiegenden Teil in durchaus lesenswerten Aufsätzen die honneurs gemacht. Daß dabei die Technik des Erzählens immer wieder im Vordergrund steht, ist wenig verwunderlich, gewinnt das Werk von Perutz doch seine Qualität weniger aus der Symbolstärke von Figuren und Handlungen oder aus der psychologischen Tiefe, die er auslotet, als aus den präzisen narrativen Konstruktionen zur Verunsicherung des Lesers auf höchstem Niveau.

Daß man diese affektive Zielrichtung lange Jahre eher im Bereich der Kolportage- oder gar der Trivialliteratur angesiedelt hat, läßt außer acht, daß von E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe ausgehend gerade die Autoren die literarische Moderne geprägt haben, die eine solche Verunsicherung und das subversive Spiel mit der Autorität des Erzählers im Sinn hatten. Eine Traditionslinie narrativer Verrätselung, deren Zentrum die Blendung oder Verblendung des Erzählers ist, führt über E. T. A. Hoffmanns "Sandmann", Maupassants "Horla" und Henry James' "The Turn of the Screw" bis hin zu Julien Greens "Voyageur sur la Terre", Perutz' "Sankt Petri-Schnee" und zum Romanwerk Hans Erich Nossacks. Sie zielt in das Herz der literarischen Moderne. Kein Wunder also, wenn sich mehrere Aufsätze des Sammelbandes am Beispiel Perutz' mit der spezifischen Konstruktion des Erzählens auseinandersetzen.

Hans-Harald Müller etwa liest die 1924 publizierte Erzählung "Der Tag ohne Abend", welche die letzten Tage eines Wissenschaftlerlebens nachzeichnet, vor dem Hintergrund einer provokativen, aber nicht wirklich neuen These Pierre Bourdieus. Der hatte in seinem Essay "Die biographische Illusion" (1986) die Gattung der 'wissenschaftlichen' Biographie aus der Soziologie ausgeschlossen, weil sie von unhaltbaren Voraussetzungen, nämlich dem Ganzheits- und Sinnpostulat des dargestellten Lebens, ausgehe, eine Vorstellung übrigens, die der moderne Roman im Laufe seiner Entwicklung ad acta gelegt hatte. Das, was der Roman der Moderne als obsolet ausschloss, fand Exil eben in anderen Formen. Diese Problematik, von Siegfried Kracauer bereits 1930 beschrieben, reflektiert Perutz, so die Überlegung Müllers, in seiner Novelle avant la lettre gewissermaßen, und zwar in Form einer hochartifiziellen narrativen Konstruktion, bei der der Riss zwischen einer kontingenten Lebensgeschichte und dem Versuch ihrer Biographisierung nicht geschlossen, sondern bloßgelegt wird.

Auch Jean-Jacques Pollet und Hugo Aust setzen sich in ihren Beiträgen mit der Konstruktion des Novellistischen bei Perutz und deren Modernität auseinander, einmal ausgehend von einer ganz kurzen, frühen Arbeit des Autors, einmal am Beispiel der "Geburt des Antichrist", Perutz längster Erzählung, wobei hier der Interpret ausdrücklich und zu Recht auf die politischen Dimensionen - als "zeitkritisch sensible Warnvision" - der 1921 geschriebenen Geschichte hinweist; eine Dimension, die auch Sigurd Paul Scheichl am Beispiel von Perutz' "Marques von Bolibar" (1920) mit Blick auf die anti-militaristischen Motive und Anspielungen des Romans hervorhebt. Das ist zwar durchaus zutreffend, aber zuweilen in den unterstellten Beziehungen zwischen dem Guerilla-Krieg der Spanier gegen die napoleonische Besatzung 1812, dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und dem Ersten Weltkrieg etwas weit hergeholt und in der warnenden Beschwörung der Apokalypse weniger überzeugend, als das eine solche These im Blick auf "Sankt Petri-Schnee" (1933) sein könnte, ein Buch, für das sich leider in dem Sammelband kein Interpret gefunden hat. Ob aber Perutz tatsächlich, wie von Scheichl behauptet, literarisch ausschließlich ein "liberaler Aufklärer" gewesen ist, darf bezweifelt werden, denn seine Lust gilt dem Verhüllen vermutlich ebensosehr wie dem Enthüllen. Er ist ein Meister im Spiel mit der Indifferenz. Den Strukturen dieser bewusst kalkulierten Verrätselung vor allem zwischen Rahmen- und Binnenerzählung widmet sich der Aufsatz von Matías Martínez, wobei dessen Untersuchung zwar neue Begriffe in die narrative Analyse einbringt ("proleptisch", "extra- bzw. intradiegetisch", "fokalisiert", "Aktant"), aber vom Ergebnis nicht weit über bereits bekannte Arbeiten hinausgelangt.

Auf welche Abwege eine nicht mehr extern kontrollierte, narrativisch ausgerichtete Untersuchung führen kann, wird durch den Aufsatz von Bettina Clausen deutlich. Ein geradezu detektivischer Furor verleitet die Autorin dazu, entgegen dem Willen des Autors, der dem Erzähler seiner Novelle "Herr, erbarme dich meiner!" (1929) keine erkennbare personale Identität verliehen hat, eine solche Identität zu (re-)konstruieren. Sie findet sie in einer der marginalen Randfiguren des fiktiven Geschehens. Diese Figur wird, um Thomas Mann zu zitieren, zum "Geist der Erzählung" erhoben. Es bleibt offen, warum der ganze Aufwand betrieben und welche wichtige Erkenntnis vermittelt wird.

Das zweite große Thema von Leo Perutz und damit auch dieses Sammelbandes ist die Geschichte, die 'Welt von gestern'. Perutz ist ein obsessiver literarischer Historiker. Sein Genre ist der historische Roman, dem er - wie einst Stevenson im neunzehnten Jahrhundert - ein völlig neues Gesicht verleiht. Die behäbige Schwerfälligkeit, die dem Genre zumindest in der deutschsprachigen Literatur auch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch immer anhaftet, hebelt er aus. Aufschlußreich ist hier ein Vergleich zwischen der Heroisierung und Mythisierung der Heldenfiguren in den zeitgenössischen historischen Romanen österreichischer Autoren von Karl Hans Strobl bis Robert Neumann (Bismarck, Struensee, Cäsar, Hannibal, Napoleon, Robespierre etc.) und den Protagonisten der Perutz-Romane. Am Beispiel von "Turlupin" (1924) verdeutlicht Wendelin Schmidt-Dengler, wie Perutz hier ein "Gegenmodell" zum Geschichtsbild des klassischen historischen Romans entwirft, nämlich Geschichte "als ein Prozeß des Scheiterns" darstellt. Perutz widerspreche allen teleologischen Konzepten von Geschichte, so Schmidt-Dengler treffend, "indem er diese durch das Wirken des Zufalls, dessen Instrument ein Narr ist, zerstört."

Leider unternimmt nur ein Beitrag - und das ist eher unzureichend - den Versuch, Perutz verwirrendes Spiel mit authentischen und fiktiven Quellen zur Rekonstruktion von Geschichte nachzuzeichnen und dessen Konsequenzen, was die Geschichtsauffassung betrifft, zu reflektieren. Welche historischen Ursprünge der Vorname Tancrède gehabt hat und ob es die "Gazette de France" tatsächlich gegeben hat, ist dabei eher irrelevant. Und dass Kardinal Richelieu gelebt hat, ist nicht wirklich überraschend. Aber Perutz provokatives Spiel mit der fingierten Absicherung seines Erzählens durch Quellen, die zum großen Teil erstunken und erlogen sind, weist auf das Spiel mit Fiktion und Wahrheit voraus, das Borges zur Meisterschaft entwickeln wird.

Abschließend sei noch auf drei lesenswerte Aufsätze hingewiesen, die den beiden Schwerpunkten nicht eindeutig zuzuordnen sind: Jan Christoph Meister setzt sich mit dem Motiv von Identität und Schuld im "Schwedischen Reiter" (1936) auseinander und findet dessen Ursprünge in der Idee der misericordia, einer religiösen Vorstellung von mitleidvoller, tätiger Barmherzigkeit, welche die Ideengeschichte des siebzehnten Jahrhunderts, das Jahrhundert der Romanhandlung, in hohem Maße mitbestimmt hat; Michael Mandelartz untersucht anhand der Lektüre der Romane "Der Judas des Leonardo" (1959) und "Nachts unter der steinernen Brücke" (1953) die Poetik des Spätwerks von Leo Perutz; und Georg Gimpl beschäftigt sich - zu Beginn leider etwas zu beredt - mit dem eher skeptischen Verhältnis des Autors zum "jüdischen Prag", insbesondere zu Max Brod und zum Zionismus, den Perutz selbst in seinem Exil in Palästina immer mit einem gewissen Mißtrauen beobachtet hat.

Des weiteren bietet der Sammelband einen Beitrag von Murray G. Hall, der anhand von Archivmaterial das nicht immer konfliktfreie Verhältnis zum Zsolnay-Verlag vorstellt, einen eher unergiebigen Artikel zum Prag- und Golem-Motiv in der böhmischen Literatur sowie als Anhang zwei bislang unbekannte bzw. unzugängliche Zeitungstexte von Perutz.

Alles in allem also ein facetten- und materialreicher Band zu Leben und Werk eines bedeutenden Erzählers, der diese Aufmerksamkeit verdient. Ein Kritikpunkt sei zum Schluß jedoch nicht verschwiegen: Hätte man ebensoviel Mühe und Sorgfalt auf das Lektorat des Bandes verwendet wie auf das pfiffige Layout (in Silber, Grün und Orange), dann wären vermutlich einige der störenden Rechtschreib- und Druckfehler vermieden worden und ein Beitrag, dessen Urheber ich bewußt nicht erwähnt habe, hätte zur Weltwirtschaftskrise nicht folgenden bemerkenswerten Kommentar abgeben können: "Die weitverbreitete Weise, sich in der Situation zurechtzufinden, war das Springen aus dem Fenster eines Hochhauses". Über weitere psycho-historische Feinheiten sei der Mantel des Schweigens gedeckt.

Kein Bild

Brigitte Forster / Hans-Harald Müller (Hg.): Leo Perutz. Unruhige Träume - Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks - Stationen der Wirkung.
Sonderzahl Verlag, Wien 2002.
260 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3854491972

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