Kurz und gut

Zur Neuentdeckung und Edition einer Kurzfassung des "Guten Gerhard" und der "Gerold-Legende"

Von Jürgen Schulz-GrobertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Schulz-Grobert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für die erzählerischen Ausgestaltungsmöglichkeiten gezielter Suche oder zufälliger Entdeckung von bevorzugt handschriftlichen Textzeugen antiker oder mittelalterlicher Literatur gibt es eine ganze Reihe mehr oder weniger prominente Beispiele. Denn mit seinem berühmten postmodernen Roman "Der Name der Rose" steht Umberto Eco in einer motivgeschichtlichen Tradition, in die z. B. auch eine wesentlich weniger bekannte und wesentlich weniger umfangreiche, aber nicht weniger lesenswerte Novelle wie "Plautus im Nonnenkloster" von Conrad Ferdinand Meyer gehört.

Einschlägigen Stoff für wenn auch nicht unbedingt gleich einen ganzen Roman, so doch zumindest eine Novelle könnte man den ausführlichen Fundberichten entnehmen, die den beiden neu edierten Texten des aktuellen Bandes der altehrwürdigen Reihe "Deutsche Texte des Mittelalters" beigegeben sind. Den Bearbeitern und Herausgebern dieses Bandes ging es natürlich nicht darum, eine spannende Geschichte zu erzählen, sondern die komplexe Geschichte ihrer Quellen zu erklären. Der bemerkenswerte Fundort zeichnet sich denn auch keineswegs dadurch aus, dass er die klassische Aura finster-verstaubter Klosterkeller-Kammern aktiviert. Im Gegenteil: Bei dem Fund- und derzeitigen Aufbewahrungsort handelt es sich um das Thüringische Hauptstaatsarchiv in Weimar, zu dessen Beständen auch der Nachlass Georg Spalatins (1484-1545) gehört.

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts arbeitete dieser Spalatin als Hofhistoriograph der sächsischen Kurfürsten und war in diesem Zusammenhang auch mit der Abfassung einer "Chronik der Sachsen und Thüringer" beschäftigt, die ihn zu umfangreichen Material- und Quellensammlungen veranlasste. Als Ergebnis derartiger Aktivitäten findet auch die Präsenz der entdeckten Textzeugen im Spalatin-Nachlass ihre bislang einleuchtendste Erklärung. Etwas rätselhaft hingegen bleibt die Frage nach dem genaueren Stellenwert der "Gerold-Legende" im Kontext frühneuzeitlicher regionalhistorischer Interessenbildung Spalatins. Zu diesem Schluss kommen jedenfalls die Herausgeber bei ihren mit kriminalistischem Spürsinn geführten Untersuchungen zur Enstehungs-, Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte, die die Edition der "Gerold-Legende" in einer lateinischen und einer frühneuhochdeutschen Fassung begleiten.

Diese repräsentiert nun den Typus der Klostergründungslegende, als deren Held Gerold zunächst einmal in der Rolle des Aussteigers in Erscheinung tritt. Denn der ehemalige Herzog von Sachsen übergibt die Regentschaft an einen Sohn, um sich in der Abgeschiedenheit einem gottgefälligen Leben widmen zu können. Die Suche nach einem passenden Ort führt ihn bis in das Große Walsertal, wo er das Kloster Friesen gründet, das er kurz vor seinem Ableben dem Abt des Benediktinerklosters Einsiedeln übereignet. So ist es denn sicher auch kein Zufall, dass der namentlich bekannte Verfasser dieser Legende - es handelt sich um Albrecht von Bonstetten (ca. 1442/43-1505) - Ende des 15. Jahrhunderts als Dekan des Klosters Einsiedeln nachgewiesen werden kann. Welche Absicht er mit der Widmung an die für ihn zeitgenössischen Regenten Sachsens verband, bleibt freilich offen. Fest steht hingegen, dass es sich bei den Weimarer Textzeugen um repräsentative Dedikationsexemplare handelt, die auf Pergament geschrieben wurden und wohl im engeren Umfeld des Autors angefertigt worden sind.

Bei der Suche nach einem wenigstens kleinen gemeinsamen Nenner für die ,Gerold-Legende' und die Kurzfassung des ,Guten Gerhard' kommt kein Geringerer als Kaiser Otto der Große in Betracht. Während sich am Ende der Legende im Zusammenhang mit der Stiftung von Einsiedeln allerdings nur die punktuelle Anspielung auf einen beteiligten Kaiser Otto aus sächsischem Geschlecht findet, ist Otto in der Rahmenerzählung des ,Guten Gerhard' eine der beiden Hauptfiguren, bekommt als Stifter von Magdeburg ein deutlicheres Profil und macht damit die Aufnahme des bislang anonym gebliebenen Textes in Spalatins Materialsammlung als Bestandteil einer umfangreichen Sammelhandschrift immerhin nachvollziehbar. Im eigentlichen Erzählzusammenhang, der eine ebenso abenteuerliche wie durch die uneigennützige Handlungsweise vorbildliche Episode aus dem Leben des Kölner Kaufmannns Gerhard als Ich-Erzählung des Helden präsentiert, spielt Otto dann keine Rolle mehr.

Für die germanistische Mediävistik ist die Entdeckung dieser spätmittelalterlichen Prosa-Fassung des "Guten Gerhard" eine kleine Sensation, weil sie die bislang offensichtlich etwas unterschätzte Wirksamkeit ihrer Quelle, den gleichnamigen Versroman Rudolfs von Ems vom Anfang des 13. Jahrhunderts, in ein neues - um nicht zu sagen besseres - Licht rückt.

Mit einem ähnlichen Gedanken hat übrigens kürzlich ganz unabhängig vom wissenschaftlichen Diskurs Ulrike Schweikert in ihrem 2000 erschienenen Romandebüt ,Die Tochter des Salzsieders' gespielt, bei dem es sich um eine Art historischen Heimat-Krimi handelt, der um 1500 in Schwäbisch Hall angesiedelt ist. Ihre Anne Katharina Vogelmann beweist im Ensemble lesender Heldinnen und Helden aktueller Mittelalterromane einen ausgefallenen Geschmack. Denn während sich Ecos Baudolino in einer Pariser Klosterbibliothek mit mittelalterlicher Konfektionsliteratur à la ,Alexander-Vita' begnügen muss, kann Frau Vogelmann einen Verehrer mit der folgenden Feststellung beindrucken: "Ich lese gerade ein sehr interessantes Buch. Es heißt: "Der gute Gerhard". Rudolf von Ems hat es geschrieben."

Titelbild

Der gute Gerhart Rudolf von Ems in einer anonymen Prosaauflösung und die lateinische und deutsche Fassung der Gerold-Legende Albrechts von Bonstetten.
Herausgegeben von Rudolf Bentzinger, Christina Meckelnborg, Franzjosef Pensel und Anne-Beate Riecke.
Akademie Verlag, Berlin 2001.
184 Seiten,
ISBN-10: 3050027797

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