Wenn die Jungen singen

Neue deutschsprachige Erzählungen

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Erzählung hat mal wieder Geburtstag", so sagt es die Herausgeberin Katja Lange-Müller in ihrem kurzen Vorwort und sie lädt ein, diesen Tag wortgewandt zu feiern. Totgesagte leben länger kann man dazu nur sagen - und die vorliegende Anthologie ist ein Beispiel für den Wahrheitskern, der sich im Alltagsspruch verbirgt. Das Erzählen ist wieder in den deutschsprachigen Roman zurückgekehrt, jubelten viele Ende der 80er Jahre, die 90er Jahre waren dann geprägt von der Diskussion um Pop und neuen Beat und all diese Wunder in der neuen deutschsprachigen Literatur. Nur: Erzählen macht noch keine Erzählung, wie sie die Herausgeberin versteht und umschreibt: "Jede wirkliche Erzählung setzt [...] auf Verdichtung, Metapher, Bild und provoziert schon deshalb [...] die Erfahrung und die Phantasie des Lesers; sie hat idealerweise ein Volumen, das man ihr nicht ansieht, und daher so viel innere Spannung, dass sie ihre äußere Gestalt jeden Moment zu sprengen droht. Die Erzählung verlangt nach anderen Sprach- und Stilmitteln als das, was wir lapidar Belletristik nennen; sie ist konzentrierter und begibt sich oft schon am Anfang in den Sog des Endes." Damit stellt sich Katja Lange-Müller bewusst gegen einen von ihr wahrgenommenen Trend innerhalb der deutschsprachigen Verlagslandschaft, möglichst vor allem Romane zu verkaufen.

Eine subjektive Betrachtung, so scheint es, die Lange-Müller als Argument vorbringt, sind doch viele DebütautorInnen der letzten Jahre durch Erzählbände erstmalig an die Öffentlichkeit getreten. So zum Beispiel Judith Hermann oder Karen Duve, Felicitas Hoppe und zuletzt noch Malin Schwerdtfeger. Doch geht es der Herausgeberin nicht um die Frage der Präsenz von Erzählungen im deutschsprachigen Literaturbetrieb, sondern um die literarische Auseinandersetzung mit der Erzählung und ihren Geschwistern.

Das Geburtstagsfest, vielmehr das Experiment, scheint gelungen. 37 AutorInnen, in der Mehrzahl so um die Dreißig, versuchen sich an der neuen deutschsprachigen Erzählung, der Kurzgeschichte, der Skizze, der Anekdote und manchmal an der Novelle, gerne auch mit Einflüssen durch Kolumne, Glosse oder Short story. Natürlich ist Geschmack subjektiv und es macht keinen Sinn, die vorab aufgestellten formalen Kriterien bei jeder Erzählung abzufragen. Der Eindruck nach dem Lesen der immerhin 37 Texte: Da sind viele gute Erzählungen dabei, manches wirkt eher wie Wortgeplänkel, anderes ist langatmig berichtet, es fehlt an innerer Spannung. Doch dies bleibt die Ausnahme und macht die anderen Beiträge dafür um so interessanter. Um einen ersten Eindruck von der Vielfalt der Erzählungen, ihren Themen, Motiven, Bildern und Symbolen, auch von den teils witzigen, teils beklemmenden stilistischen Eigenheiten zu bekommen, können die ersten drei Geschichten angelesen werden: 'Von einem, der aufhörte' (Markus Orths), 'Wochenende' (Bettina Gundermann), 'Kehrtwertzeit' (Andreas Filipovic). Wer danach und natürlich nach den anderen 34 Texten seine Leidenschaft für die Erzählung entdeckt hat und weiteren Lesestoff sucht, dem sei die Erzählung 'Verfrühte Tierliebe' der Herausgeberin empfohlen, denn Katja Lange-Müller setzt darin das um, was sie in ihrem Vorwort verspricht. Der Text zeigt ihre "glühende Leidenschaft für die Erzählung" und ist gleichzeitig eine, und zwar eine gute.

Titelbild

Katja Lange-Müller (Hg.): Vom Fisch bespuckt. Erzählungen von 37 deutschsprachigen Autorinnen und Autoren.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
294 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462030736

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