Am Anfang von Afghanistans Ende

Zu Atiq Rahimis "Erde und Asche"

Von Monika PapenfußRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Papenfuß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit rund achtzehn Jahren lebt der afghanische Autor Atiq Rahimi im französischen Exil. Wie viele seiner Landsleute floh der junge Mann aus einer gebildeten Kabuler Familie vor den Sowjets. "Erde und Asche" erschien bereits vor dem 11. September 2001 in französischer Sprache, wurde jedoch kaum zur Kenntnis genommen. Erst nachdem Afghanistan ins Zentrum des Medieninteresses gerückt war, wurde das Buch neu entdeckt. "Erde und Asche" wird seitdem als Parabel auf die verlorenen Kriegsgenerationen Afghanistans unter der sowjetischen Besatzung, Atiq Rahimi als "Stimme Afghanistans" gefeiert.

Der Bezeichnung Roman erscheint in Anbetracht der Kürze, der Konzentration auf eine Begebenheit, die überschaubare Anzahl der Schauplätze und die eher schemenhaft verbleibenden Personen nicht angemessen. Vielmehr dürfte es sich um eine Novelle, um die Gestaltung eines Lebenskonflikts handeln, der zum Ende hin eine unerwartete Wendung nimmt.

"Erde und Asche" erzählt die Geschichte eines alten Mannes, der sich zu der schweren Aufgabe verpflichtet sieht, seinem Sohn die Nachricht von der Zerstörung seines Heimatdorfes durch die Sowjets zu überbringen, dessen einziger Überlebender er selbst und sein beim Bombardement taub gewordener Enkel ist. Während er zu Beginn von der Angst besessen scheint, auch diesen letzten Sohn entweder durch den Schmerz, den er ihm durch die Nachricht zufügen muss, oder durch dessen ihm zwingend erscheinende, da gesellschaftlich geforderte Vergeltungsaktion zu verlieren, verändert sich seine Gefühlswelt gegen Ende zu überraschend. Die Wende, das Umschlagen von Liebe und Sorge in Ablehnung und Hass, wird durch ein Gespräch mit dem Vorarbeiter des Sohnes ausgelöst, in dem der Alte erfährt, dass sein Sohn bereits von der Auslöschung seines Dorfes wisse. Für den Alten hat dieser durch die Tatsache, dass er nicht nach Hause gekommen ist um die Toten zu rächen, gegen die Gesetze der Ehre verstoßen und die Familienehre beschmutzt. Auch wenn das Ende offen bleibt und der Alte sich erst letzte Klarheit über die Richtigkeit der Informationen verschaffen möchte, bevor er seinen einzigen ihm verbleibenden Sohn verstößt, hat er bereits gedanklich den Bruch mit ihm vollzogen.

Der Text folgt einer Dreiteilung ohne formale Gliederungsmerkmale. Äußerlich wird sie durch den Wechsel der Schauplätze deutlich. Im ersten Teil geht es vorrangig um die Verzweiflung, die Trauer, die Einsamkeit und innere Leere des alten Mannes, der durch den Krieg fast alles verloren hat. Seine Gefühle sind so stark, dass sie ihn sogar mit Gott hadern lassen. Rahimi verstärkt diesen Eindruck, indem er auf jeden sprachlichen Schnörkel verzichtet an einem strengen parataktischen Satzbau festhält. Auch die ausführlichen Beschreibungen der ausgedörrten, staubigen, mit ihren dornigen Hügeln vollkommen unwirtlich wirkenden Landschaft erscheinen wie ein Spiegel der Seele des Alten. Überhaupt wählt Rahimi häufig das Mittel der symbolischen Verdichtung und des Traumes, um die komplexe Gefühlswelt seiner Figuren nachempfindbar zu machen. Ebenso arbeitet er mit Rückblicken, die mosaikartig das Bild von der Familiensituation des Alten zusammensetzen und mit Andeutungen, die den Konflikt des Höhe- und Wendepunktes vorwegnehmen. So erfährt der Leser schon früh und in anderen Zusammenhang von der überragenden Bedeutung der Familienehre für den alten Mann.

Der mittlere Teil stellt ein Verbindungsglied zwischen dem ersten und letzten dar. Hier wird der unauflösbare Zwiespalt des Alten im Traum gestaltet und sein eigentlicher Konflikt, den er sich im realen Leben bisher nicht einmal eingestehen konnte, gewinnt Konturen: Im Grunde fürchtet der Alte die Rache des Sohnes nicht nur, sondern er erhofft sie zugleich, da er an seinem Bild von ihm als "Berg der Ehre" festhalten will.

Dass es sich hierbei um den zentralen Konflikt der Novelle handelt, wird bereits im ersten Teil durch das Gespräch mit einem Kioskbesitzer vorweggenommen, der seinen Sohn, der mit den Sowjets sympathisiert, verstoßen hat. Der Alte fühlt sich durch jenes Gespräch sogar getröstet. Das Schicksal des anderen erscheint ihm härter als das eigene.

Das Thema der Ehre zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Novelle. Um seine Verwurzelung in der Denkwelt des afghanischen Volkes zu unterstreichen, flicht Rahimi das berühmte Heldenepos "Shahnama" des persischen Dichters Firdousi aus dem 11. Jahrhundert ein, dem zufolge ein Vater, Anführer eines mächtigen Clans, unwissentlich seinen Sohn tötet, der das feindliche Heer befehligt. Der Alte befürchtet hingegen, dass die Verhältnisse sich ins Gegenteil verkehren: Die Söhne töten ihre Väter durch Verrat. Ehrverlust bedeutet in dieser Denkwelt offenbar die Aufhebung der gesellschaftlichen Grundlage.

Nur im Zwiegespräch mit seinem Sohn und seinen Selbstreflexionen im Halbschlaf ist er in der Lage, den Irrsinn seiner Forderung nach Rache und die Schuld, die er dadurch auf sich lädt, zu erkennen. Der Konflikt verdichtet sich symbolisch durch seine beim Bombenangriff ums Leben gekommene Frau, die ihm im Traum erscheint und nach ihrem Apfelblütenschal fragt. Während er wenige Stunden zuvor noch für seinen Enkel einen zwar harten, aber essbaren Apfel aus jenem zum Bündel verknoteten Schal hervorziehen konnte, birgt er nun nur noch verkohlte Äpfel.

Das Gespräch mit dem Vorarbeiter bringt den bisher nur im Unterbewusstsein schwelenden Konflikt an die Oberfläche. Dass der Sohn sich dem Druck seines Vorgesetzten gebeugt hat, der ihn nicht gehen lassen wollte, bewirkt, dass die durch die grausamen Ereignisse aus den Fugen geratene Denk- und Gefühlswelt des Alten wieder in das traditionelle Schema gerückt wird: Ehrverlust ist schlimmer als Tod.

Rahimis Sprache ist schlicht, der Erzählton eher nüchtern und ein wenig distanziert. "Erde und Asche" ist keiner von den Texten, die unmittelbar auf die Emotionen des Lesers abgestellt sind. Er unterscheidet sich damit wesentlich von der Vielzahl der in den letzten Monaten erschienen Texte, die von Afghanistan erzählen.

Dennoch ist die Novelle von ungewöhnlicher Intensität. Diese Dichte entsteht durch Rahimis meisterhaften Umgang mit den klassischen Erzählmitteln der Novelle, einem Genre, das in seinem Heimatland keine Tradition hat. In den vielen Jahren im westlichen Exil hat er offensichtlich den Umgang mit Rückblicken und vorausblickenden Andeutungen gelernt. Er weiß die vielfältigen Formen der Straffung, , innere Monologe und den bedeutungsvollen Traum sicher einzusetzen und seiner Geschichte in einem streng auf den Höhe-und Wendepunkt hin komponierten Aufbau Form zu verleihen. Beeindruckend ist auch, mit wie wenig Worten Rahimi auskommt, um vor dem geistigen Auge des Lesers ein Bild der afghanischen Landschaft entstehen zu lassen.

Rahimis Stärke liegt auch darin, kein umfassendes Bild, sondern lediglich einen kleinen Ausschnitt aus der Konfliktlage seines Landes zu zeigen. Für den westlichen Leser ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, dass er dabei einen Aspekt gewählt hat, dessen Bedeutung in unserer Denkwelt nur eine untergeordnete Rolle spielt. Vielleicht hat der Abstand durch die ihm auferlegte Exilsituation und die dadurch entstehende Perspektive von außen seinen Blick gerade für den problematischen Ehrbegriff seiner Gesellschaft geschärft.

"Erde und Asche" ist somit viel mehr als eine bloße Parabel auf die verlorenen Kriegsgenerationen Afghanistans. Das Buch ist gleichzeitig eine Art Lehrstück über ein dem westlichen Leser eher fremdes Wertesystem, das bei der Beurteilung der gesellschaftlichen Gesamtsituation dieses Landes jedoch keineswegs vergessen werden darf.

Titelbild

Atiq Rahimi: Erde und Asche.
Übersetzt aus dem Persischen von Susanne Baghestani.
Claassen Verlag, München 2002.
100 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3546003144

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