Gershom Scholem als Schriftsteller

Literatur und Rhetorik in seinem Werk

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1997 wäre der angesehene Judaist Gershom Gerhard Scholem (1897-1982) hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass veranstaltete das Wissenschaftskolleg Potsdam ein Symposion, dessen Beiträge kürzlich unter dem Titel "Gershom Scholem, Literatur und Rhetorik" in der Reihe "Literatur - Kultur - Geschlecht" des Böhlau Verlages erschienen sind. Die Herausgeber Sigrid Weigel und Stéphane Mosès betonen in ihrem Vorwort, dass es ihnen nicht nur darum geht, den Judaisten Scholem zu würdigen, sondern auch den Literaten, dessen Schriften in den letzten Jahren von der Germanistik entdeckt wurden. Ein Prozess, der an der judaistischen Forschung weitgehend vorbei ging, genau wie die Germanisten die Ergebnisse der religionswissenschaftlichen Kollegen meist beiseite ließen. Der vorliegende Band will nun diesen Missstand beheben und den "ganzen Scholem" vorstellen.

Der einleitende Aufsatz von Stéphane Mosès ist der einzige, der dem Anspruch des Sammelbandes voll gerecht wird. Er beschäftigt sich mit Gershom Scholems Autobiographie und untersucht, wie dieser in seinen Erinnerungen "Von Berlin nach Jerusalem" das eigene Leben in Literatur verwandelt. Elegant analysiert Mosès Scholems Erzählstrategien und stellt heraus, dass die literarischen Muster, derer sich Scholem in seiner Autobiographie bedient, die des klassischen Bildungsromans sind. Mosès zeigt auch, wie der Autor die narrative Ordnung durch allerlei Anekdoten und Assoziationen auflockert; dem selben Zweck dienen die literarischen Kurzporträts, die sich in "Von Berlin nach Jerusalem" immer wieder finden. Mosès gelingt es hervorragend herauszuarbeiten, wie Scholem die Mischung zwischen Rückwendung zur jüdischen Vergangenheit und anarchistischer Revolte gegen die Gegenwart als entscheidende Impulse für seine weitere Entwicklung darstellt. Er betont allerdings auch, dass der Anarchismus keinesfalls nur eine Jugendneigung des Autors gewesen sei, sondern lebenslang Scholems Grundhaltung beeinflusste.

Sigrid Weigel beschäftigt sich in ihrem facettenreichen Beitrag mit Scholems Gedichten und seiner Dichtungstheorie. Sie hebt aber auch die Vielseitigkeit des Autors Scholem hervor, in dessen Werk sich die unterschiedlichsten Schreibweisen finden. Sie versucht zudem, seine Sprachtheorie zu rekonstruieren und widmet sich intensiv seiner Freundschaft mit Walter Benjamin. Zu dem Schönsten, das Scholem jemals geschrieben hat, gehören für Weigel dessen Übersetzungen von rituellen hebräischen Liedern und Hymnen. Erstaunlich ist, dass sie im Zusammenhang mit den Übersetzungen zwar seine Korrespondenz mit Rosenzweig erwähnt, nicht aber Scholems Position in der gleichzeitig stattfindenden Kontroverse um die Buber-Rosenzweig Bibelübersetzung.

Moshe Idels hochgelehrter Aufsatz "Zur Funktion von Symbolen bei G. G. Scholem" beschäftigt sich im Wesentlichen mit den religionsgeschichtlichen Arbeiten Scholems, macht aber auch deutlich, wie sehr Scholems wissenschaftlicher Symbolbegriff von Goethe und Reuchlin geprägt wurde. Pierre Bouretz' Beitrag "Gershom Scholem und das Schreiben der Geschichte" untersucht die narrativen Strategien des Religionshistorikers bei der Freilegung der mystischen Traditionen des Judentums. Die Arbeiten über Messianismus und Kabbala seien trotz gegenteiliger Behauptungen Scholems durchaus von den berühmten Reden über das Judentum, die sein Lieblingsfeind Buber während des ersten Weltkriegs publizierte, beeinflusst. Bouretz zeigt zudem, wie Scholem die Geschichte des jüdischen Volkes und die der jüdischen Mystik verknüpft, um die verschiedenen Formen des Messianismus als Antwort auf das Ghettoleben oder die Vertreibung zu analysieren. Im Unterschied zu vielen Kollegen betrachtet Scholem den Messianismus nicht als irrationale Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung, sondern betont die Verquickung von Philosophie und Messianismus in der jüdischen Ideengeschichte.

Mit dem Verhältnis von Philosophie und Messianismus befasst sich auch Andreas Kilchers Beitrag "Figuren des Endes, Historie und Aktualität der Kabbala bei Gershom Scholem". Kilcher beschäftigt sich mit dem Ende der Kabbala, das Scholem auf den Beginn der Aufklärung datierte, und ihrem Weiterleben in Historiographie und Philosophie. Kilcher berichtet, dass Scholem fünf verschiedene Schwundformen der Kabbala ausmachte: esoterische Remythisierung, psychologische Symbolisierung, philosophische Allegorisierung, literarische Episierung und historiographische Tradierung. Kilcher stellt Scholems kritische Rezeption dieser Schwundformen ausführlich vor und berichtet, dass Scholem nur die Weiterführung der Kabbala in der Literatur, z. B. in den Erzählungen der Chassidim, halbwegs akzeptieren mochte. Allerdings konnte Scholem mit den berühmten chassidischen Erzählungen Martin Bubers wenig anfangen, schränkt Kilcher ein. Er sah ein Weiterleben der Kabbala vor allem in den Werken Kafkas verwirklicht.

Über die Rivalität zwischen Buber und Scholem geht Kilcher jedoch kommentarlos hinweg. Dabei hätte ein Aufsatz zu dem problematischen Verhältnis von Scholem und Buber, der mehr noch als Scholem ein jüdischer Denker und deutscher Schriftsteller war, dem Sammelband mehr Lebendigkeit verliehen und wäre auch Scholem angemessener gewesen. Dieser war schließlich eine ausgesprochen streitbare Persönlichkeit, die erbitterte Kontroversen führte und alte Feindschaften hingebungsvoll pflegte. Dieser Aspekt spielt immerhin eine wichtige Rolle in dem Aufsatz "Zur Frage nach dem Preis des Messianismus, Der intellektuelle Bruch zwischen Gershom Scholem und Jacob Taubes als Erinnerung ungelöster Probleme des Messianismus" von Thomas Macho, der sich ganz entschieden gegen das pietätvolle Schweigen wendet, mit dem Brüche und Konflikte in Leben und Werk des Gelehrten zugedeckt und übergangen werden. Das Zerwürfnis zwischen Scholem und Taubes, das Ausgangspunkt von Machos Erörterungen ist, fand 1951 statt. Der Streit zwischen Lehrer und Schüler war zunächst persönlicher Natur, wandelte sich aber bald zur inhaltlichen Auseinandersetzung über die Unterschiede von christlichem und jüdischem Messianismus. Taubes warf Scholem übertriebene Polarisierung zwischen beiden Religionen und Missachtung der jeweiligen historischen Kontexte vor, berichtet Macho. Taubes hat dagegen nicht nur in seiner Dissertation über abendländische Eschatologie eine deutliche Nähe zwischen jüdischem und christlichem Messianismus konstatiert, ihn interessierten vor allem die politischen und geschichtsphilosophischen Implikationen der messianischen Heilserwartung. In späteren Werken diskutierte er z. B. zionistischen und marxistischen Messianismus und immer wieder jüdische Dissidenten. Scholem sei vor allem Historiker gewesen, den die Freilegung der verschütteten Geschichte des Judentums interessierte, während für Taubes die messianische Tradition noch nicht Geschichte war, sondern Teil eines unabgeschlossenen, noch offenen Prozesses. Auf diese Art bringt Macho die Unterschiede zwischen Scholem und Taubes vielleicht etwas simplifizierend auf den Punkt.

Insgesamt finden sich in "Literatur und Rhetorik" viele gelehrte und ausführliche Beiträge, die innerhalb der Scholem-Forschung sicher einen wichtigen Rang einnehmen, auch wenn interessante Aspekte seines Werkes nicht thematisiert werden. Ausgespart bleibt z. B. Scholems Sprache, bzw. seine Sprachen. Denn seine Position als mehrsprachiger Autor wird nicht analysiert, dabei schrieb er nach seiner Emigration nach Jerusalem im Jahr 1923 vieles auf Englisch und Hebräisch. Dies wird im vorliegenden Sammelband kaum deutlich, alle Texte werden auf deutsch zitiert, ob es sich bei ihnen um Übersetzungen handelt, bleibt unerwähnt. Dies wäre weiter nicht zu bemängeln, wenn es sich nur um die Würdigung des Wissenschaftlers Scholem handeln würde. Da die Absicht des Bandes jedoch ist, Scholem als Schriftsteller zu etablieren, wäre eine Analyse über die beiden Kulturräume, innerhalb derer er sich bewegte und die drei Sprachen, die sein Medium waren, angebracht gewesen.

Bei aller Prägung Scholems durch die deutsche Literatur, durch Goethe und Kafka, auf die im vorliegenden Band immer wieder verwiesen wird, war er gleichzeitig aber auch ein scharfer Kritiker der deutschen Kultur, was weitgehend unerwähnt bleibt. Schließlich ging er nicht nur aus zionistischer Überzeugung nach Israel, sondern auch weil die deutsche Kultur zutiefst von Antisemitismus durchdrungen war, was er in seinen Schriften immer wieder anprangerte. Scholem - unter Vernachlässigung dieses kritischen Impulses - der Kultur wiedereinzugemeinden, der er einst aus guten Gründen den Rücken gekehrt hat, erscheint seinem Leben und Werk wenig angemessen.

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Gershom Scholem: Literatur und Rhetorik. Literatur, Kultur, Geschlecht. Kleine Reihe Bd.15.
Herausgegeben von Stéphane Mosès.
Böhlau Verlag, Köln 1999.
200 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3412045993

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