Den Geist und das Wort zum Tanzen bringen

Paul Wühr wird 75

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beweglich zu bleiben und doch nicht ins Wörterchaos zu fallen, das ist sein Programm. Heute gehört er zu den Klassikern der Neuen Poesie. Sein Tagebuch ist eine Neuerfindung der Gattung, seine Lyrik tendiert zum Epos, seine Prosa zu Figurenspiel und Dokumentartheater. Jedes seiner Bücher stiftet eine Fülle von Ordnungen, die sich wechselseitig überlagern. Seine Commedia „Das falsche Buch“ (1983) besticht durch gewaltige Fülle und wurde mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Was aber ist ein „falsches Buch“, fragte Helmut Heißenbüttel in seiner Laudatio, und kam zu dem Schluss, dass ein „falsches Buch“ ein poetisches Werk sei, dem es nicht vordergründig um artistische Demonstration, sondern um Widerspruch gehe. „Das falsche Buch“ setzt sich in Widerspruch zu Wirklichem und widersetzt sich der behaupteten Richtigkeit der Welt.

Paul Wühr schreibt seit über sechzig Jahren. Mit seinem ersten Gedicht ging er zum Onkel in die Münchener Luisenstraße, und der hat alle Leute im ganzen Haus zusammengetrommelt: „Kommts einmal zu mir rauf, ich habe eine Entdeckung! Und die haben sich alle hingesetzt, und er hat gesagt: Paul, jetzt lies noch einmal dieses Gedicht vor! Ich lese, die klatschen, und ich war ein Dichter.“

Das eigentliche Schreiberleben beginnt gleich nach dem Krieg. Mit zwei schmalen, elegant zugeschnittenen Privatdrucken wird er 1955 Autor. Man stelle sich einen katholischen Bäckerssohn aus der Augustenstraße vor, der sich durch das zerbombte München hungert und bei Romano Guardini Vorlesungen hört, der in den fünfziger Jahren an einem „Theologia-Stoff“ arbeitet und 27 hymnische Großgedichte entstehen lässt. Ein Zweifelnder im Selbstgespräch mit Gott – war er ein Verspäteter nur oder stand er im Abseits?

In den 60er Jahren führte Paul Wühr in Gräfelfing eine Doppelexistenz: Vormittags ging der Volksschullehrer in die Schule und brachte den Kindern Grundrechenarten und Grammatik bei – seine Lieblingsfächer. Er übernahm freiwillig die Pausenaufsicht, denn im Auge des Taifuns konnte er seinen Fantasien ungestört nachhängen. Mittagessen dann zuhause im Kreise von Frau und Kindern, mit Tischgebet. Nachmittags Rückzug in die Schreiberwelt. Schließlich abends, wenn Besuch kam und man im Wohnzimmer in der Einrichtung saß, wurden aus der Schrankwand die Ginflaschen hervorgezaubert. Eine brüchige Welt, die bald in die Brüche ging.

Mit opulenten, viele hundert Seiten starken Gedicht- und Prosabüchern tritt er noch heute alle paar Jahre an die Öffentlichkeit. Das neue Buch, noch in der Werkstatt, heißt „Der wirre Zopf“ und wird, nach „Gegenmünchen“ (1970) und „Das falsche Buch“, wieder ein großer Gesang auf München werden: „Allerdings wird München immer mehr Europa. Teilweise kommen die Häuser […] aus den Metropolen nach München und werden dort eingesetzt, eingebaut, und so breite ich mich über ganz Europa aus.“ Einen Ausschnitt aus diesem Tagebuch bietet das „Paul-Wühr-Jahrbuch 1999“ (2001).

„Salve Res Publica Poetica“ (1997), ein Gedichtband mit 660 Gedichten auf 800 Seiten, gilt als sein Opus magnum; ihm ist ein Materialienband gewidmet, dem es darum geht, „Ordnungen“ zu bestimmen und für Paul Wühr typische Kompositionsprinzipien zu benennen. Ideenreich bezieht Jörg Drews „Salve“ und Walter Kempowskis „Echolot“ (1993) aufeinander, zwei Werke, die aus Stimmen der Vergangenheit gebaut sind. Um Fragen der Segmentierung des Gedichtbandes geht es Hans Krah, während Jürgen Nelles und Matthias Bauer darstellen, wie Gotthold Ephraim Lessing bzw. Alfred N. Whitehead in Wührs Gedichtband ‚hineinsprechen‘. Intertextualität ist auch das Stichwort für den Aufsatz von Franziska Mayer und Franz Adam; Walter Ruprechter stellt den „Hamann-Dichter“ Paul Wühr vor; Sabine Kyora arbeitet das ‚Paar‘ als – schon seit „Gegenmünchen“ – wichtigsten Träger der Handlung heraus.

Paul Wühr ist ein einfacher Bäckerssohn aus Schwabing. Sein poetisches Bild ist der Teig, der zur Brez‘n oder zum Zopf geflochten wird. Ein Bild aus Kindertagen bezieht er von seinem Vorbild Francis Thompson: „Mit meiner Mutter wirren Flechten spielend Kind“. Es wird ihm in seinem Tagebuch zum poetischen Prinzip: Das Dichterleben vollführt eine schleifenartige Bewegung dadurch, dass die täglichen Einträge umgeschichtet und Texte nebeneinander gestellt werden, die vielleicht Jahre auseinanderliegen, doch nun auf derselben Seite stehen.

In einem Selbstgespräch, aufgezeichnet von Lucas Cejpek (und soeben bei Droschl erschienen), erzählt Paul Wühr, wie er sich aus dieser Bäckerwelt herausgeschrieben hat. Wie er 1967 oder 1968 ein Vagantenleben begann und seine zweite Frau kennen lernte, wie er mit ihr und Freunden die Münchener Autorenbuchhandlung gründete und wieder nach Schwabing zog. Die Studentenunruhen erlebte er aus nächster Nähe mit, und es entstand die Idee, als Hörspielautor auf die Straße zu gehen und aus Originalton-Aufnahmen ein Hörbild der Stadt zu entwickeln. Für das „Preislied“ nahm er 1972 den Hörspielpreis der Kriegsblinden entgegen.

Noch in seinem Gedichtband „Rede“ (1979) wird der Mai ‚68 thematisiert; als Stunde des Aufbruchs vergegenwärtigt ihn auch der Gedichtband „Salve Res Publica Poetica“, und in „Sage“ (1988) ist der Mai von Tschernobyl ganz gegenwärtig. Seine Poesie verwandelt diese Gegenwart in eine poetische Gegenwart, in die auch die unerledigten Vergangenheiten hineinzitiert werden. In der „Rede“ zum Beispiel wird der Mai der Französischen Revolution auf die Pariser Maiunruhen von 1968 projiziert, die Vergangenheit wird in die Zukunft geworfen und dadurch für heutige Leser verfügbar gemacht.

Der Autor, der sich so erinnert, hat seit den Anfängen nicht mehr aufgehört zu dichten. In seinem Haus in Passignano am Lago Trasimeno türmen sich „ganze Stöße“ von Manuskripten. Ein kleiner, aber wichtiger Teil davon liegt veröffentlicht vor: große, kühne Kompositionen wie das Stadtbuch „Gegenmünchen“, der Roman „Das falsche Buch“, das Tagebuch „Der faule Strick“ (1987) oder der Gedichtband „Venus im Pudel“ (2000).

Eine Auswahl seiner Gedichte ist unter dem Titel „Leibhaftig“ im Rimbaud Verlag erschienen. Aus fünf seiner sechs Gedichtbücher hat der Autor circa 90 Texte ausgewählt, die in der Leserichtung den diachronen Verlauf seiner Entwicklung als Lyriker zeigen. Ebenfalls bei Rimbaud erscheint turnusmäßig das Paul-Wühr-Jahrbuch und macht peu à peu auch die frühen Hörspiele zugänglich. Die jüngste Ausgabe hat sich als thematischen Schwerpunkt das Denk-Hörspiel „Die Rechnung“ (1968) gewählt. Neben dem Hörspieltext sind hier ein im Produktionsjahr geführtes Gespräch mit dem Dramaturgen Klaus Schöning, ein poetologischer Text von Paul Wühr („Denkspiele“) und ein Essay von Jürgen Nelles vertreten.

Paul Wührs Werk ist schon deshalb eine Bereicherung, weil es radikal bricht mit den als obsolet empfundenen Gattungsgrenzen und -konventionen, weil es Übergänge gestaltet zwischen Hörspiel, O-Ton-Collage, szenischem Denkspiel, Romantheater, Sehtext und Gedicht. Sein Werk ist eine einmalige, radikale und in ihrer Radikalität fundamentale Dichtung, die tatsächlich die ganze Poesie betrifft. Es geht diesem Autor dabei nicht um die Erprobung oder Fortführung von Schreibweisen, nicht um die Variation von Konzepten, nicht um ‚experimentelle Literatur‘. Das wäre ein Missverständnis. Es geht ihm darum, im Selbstgepräch die Poesie neu zu erfinden, und das macht er mit seiner schwer erarbeiteten Leichtigkeit, die genau weiß, was sie tut. Das Experiment, das Kalkül, spielt allenfalls in der kurzen Entscheidungssituation vor 1970 eine Rolle, als er, gemeinsam mit anderen, nach einer Möglichkeit sucht, die Wörterstadt selbst zu Wort kommen zu lassen. Im übrigen aber ist es ein ungeheures Exercitium, das Paul Wühr uns hier vorlebt, quasi der Versuch, in der Poesie ernstlich zu denken und das Leben in der Poesie aufzuheben.

In seinen Büchern gibt es Spielaktionen und Stadtführungen, Straßen- und Volkstheater, Staatsakte und Sauftouren und dramatische Pantomimen wie die Besetzung eines Supermarktes. Seine Hörspiele, vor allem die späten, sind akustische Sensationen. Und in seinen Gedichten manifestiert sich der Versuch der Poesie, eine Ordnung zu stiften, ohne sich an die Ordnungen, die es schon gibt, zu verraten.

„Was ich noch vergessen habe“, das Selbstgespräch mit Lucas Cejpek, ist die lebendige Standortbestimmung eines Autors, dessen Dichtung Fleisch und Geist und Wörter und Syntax zum Tanzen bringt. Es ist bereits der zweite poetische Monolog dieser Art, den Cejpek aufgezeichnet hat. Wer Paul Wühr selber einmal sprechen und vor allem lesen hören möchte, der sei auf eine CD des HörVerlags verwiesen: „Ich unterstehe mich“ (1997).

Der Leser und Hörer hat also vielfältige Möglichkeiten, Paul Wühr kennenzulernen. Einmal, erzählt der Dichter, habe ihm der niederbairische Platzhirsch Herbert Achternbusch einen Hieb aufs Sprachzentrum versetzt, und er sei sofort ohnmächtig geworden. Doch Gott sei Dank – es ist ihm nichts passiert. Paul Wühr schreibt weiter an seinem „Gesamtgedicht“, kühn und phantastisch. Ad multos annos!

Titelbild

Paul Wühr: Ich unterstehe mich. Gedichte, gesprochen vom Verfasser. Compact-Disc.
Der Hörverlag, München 1998.
75 Min., 16,40 EUR.
ISBN-10: 3895845655
ISBN-13: 9783895845659

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Paul Wühr: Leibhaftig. Ausgewählte Gedichte.
Rimbaud Verlagsgesellschaft, Aachen 2001.
108 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3890867243

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Paul Wühr Jahrbuch 1999.
Rimbaud Verlagsgesellschaft, Aachen 2001.
149 Seiten, 30,70 EUR.
ISBN-10: 3890867685

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Sabine Kyora (Hg.): Die poetische Republik. Annäherung an Paul Wührs "Salve re publica poetica".
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2002.
176 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3895283568

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Titelbild

Paul Wühr: Was ich noch vergessen habe. Ein Selbstgespräch.
Literaturverlag Droschl, Graz 2002.

ISBN-10: 3854205945

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