Why haven't you managed to die yet?

Russell Artus erzählt von einer Selbstmord-Sekte

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joris ist ein Schwein. Ein Mörder. Er treibt Leute in den Selbstmord, um sich nicht selbst umbringen zu müssen. Zuerst seine Schwester, von ihm Geesch genannt, später seine Freundin Liedje, die eine Notiz an ihn hinterlässt: "Damit du es nicht tun musst." Zurück bleiben zwei Familien, die mit den unerklärlichen Selbstmorden ihrer Kinder fertig werden müssen. Und Joris spielt das bemeitleidenswerte Opfer, das erst die Schwester und dann die Freundin verloren hat. Der erste Tod war für Joris noch fast eine Überraschung, den zweiten Tod plant er systematisch. Dass Joris Anhänger einer obskuren Sekte ist, die es sich zum Ziel setzt, Menschen in den Tod zu treiben, um sich für den eigenen Selbstmord "fit" zu machen, ahnt niemand.

Russell Artus erzählt in seinem Roman "Unperson" von Lust und Entsetzen, Hörigkeit und Tod. Dabei wechselt er immer wieder Perspektiven und Zeitebenen, schildert Liedjes Selbstmord aus der Perspektive ihrer Schwester Lien oder aus Joris' Perspektive, lässt Lien nach den Ursachen forschen, lässt Joris sich an seine Schwester erinnern, an ihre letzten gemeinsamen Stunden, an seine Affäre mit ihr und die daraus resultierende Schwangerschaft. "Unperson" ist ein verstörender Roman, der die tragischen Ereignisse in beiden Familien schildert ohne zu urteilen und immer tiefer in die Psyche der Charaktere dringt. Ist die Schuld wirklich nur bei Joris zu suchen? Artus durchleuchtet beide Selbstmorde intensiv, betreibt Ursachenforschung, wühlt in Familiengeschichten, bis die anfangs so leicht ausgesprochene Schuldzuweisung zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden muss. Joris ist ein Schwein. Ein Mörder? Geeschs Selbstmord passiert ohne jede Vorankündigung, lässt jedoch keinerlei Zweifel an Geeschs Willen zu sterben. Ist Joris schuld daran, weil er das Kind, das Geesch erwartete, nicht als seines anerkennen wollte, sondern sie vielmehr beschuldigte, herumgeschlafen zu haben? Ist es die Schuld der Eltern, weil sie ihren Kindern verheimlichten, dass Geesch nicht ihr leibliches Kind war? Ist es Joris' Schuld, weil er dies herausfand und seine Eltern mit diesem Wissen erpresste, damit sie die Affäre zwischen ihren Kindern schweigsam duldeten? Oder gibt es noch einen anderen, unbekannten Grund? Geesch hat schließlich nicht mal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Artus lässt keine einfachen Antworten zu und deckt Schicht um Schicht ab, um zum Kern der Ereignisse vorzudringen.

Lien steht fassungs- und ratlos vor dem Tod ihrer Schwester, die vom Dach des Hochhauses sprang, und stellt sich immer wieder vor, wie Liedje am elterlichen Wohnzimmerfenster vorbeistürzt und noch ein letztes Mal winkt, stellt sich vor, wie Liedje es sich - zu spät - doch noch anders überlegt. Liedje hinterlässt zwar eine Notiz "Damit du es nicht tun musst", aber an wen ist sie wirklich gerichtet? An Joris? Oder an Lien, die ihr Leben dutzende Male bei waghalsigen Stunts und Mutproben riskiert hat, so dass Liedje ihr eine unbewusste Todessehensucht vorwarf? Auch hier stellt sich die Schuldfrage immer wieder von neuem: War es wirklich Joris, der Liedje systematisch in den Tod getrieben hat? Oder ist Liedje, hypersensibel und idealistisch, an der kalten Realität des Lebens zerbrochen? "Unperson" ist vor allem eine Spurensuche, die den Leser in die Psyche von Lien, Liedje und Joris führt, auf die verschlungenen Pfade ihrer gemeinsamen Geschichte, die Geschichte ihrer Familien und in die obskure Sekte, der Joris nach Geeschs Tod beitritt. Gerard, der Sektenguru, hat sich darauf spezialisiert, seine Anhänger zu einem Bewusstsein zu führen, das sich nicht mehr um das Leben schert, um das eigene oder das anderer Personen, um dann den letzten großen Schritt in den Tod zu tun. In stundenlangen Sitzungen schwört er Joris darauf ein, sich eine Jungfrau zu suchen, die sich für ihn umbringt. Liedje wird zu Joris' allzu willigem Opfer, ebnet ihm den Weg zur eigenen Vernichtung, den er sich doch dann nicht anzutreten getraut - wie alle anderen in der Gruppe auch, in der manche schon drei Leute auf dem Gewissen haben. Artus führt den Leser tief in die Dynamik der Sekte, lässt ihn erleben, wie Joris gedemütigt und mental gebrochen wird, bis er sich den Regeln der Sekte beugt und sich der lebenslustigen Liedje nähert, für die er nichts empfindet, aber ihr die große Liebe vorspielt und sie zum Abziehbild seiner Schwester stilisiert.

"Unperson" ist ein großartiger Roman mit großen, wichtigen Themen, die Artus zwar intensiv und penibel durchleuchtet, aber der Autor maßt sich nie an, die richtigen Antworten zu kennen. So wird der Roman zum Psychogramm zweier Selbstmorde.

Titelbild

Russell Artus: Unperson.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Silke Hachmeister und Thomas Hauth.
Luchterhand Literaturverlag, München 2002.
604 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3630871208

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