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Arthur Schnitzlers Bestandsaufnahme der Wiener Gesellschaft

Von Kathrin FehlbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Fehlberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man nehme einen 27-jährigen, ungebundenen und den Frauen zugeneigten Freiherren, seines Zeichens Musiker und wohnhaft in Wien um 1900, lasse ihn eine Liebschaft mit einer aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Musiklehrerin anfangen und verkompliziere diese alsbald durch eine ungewollte Schwangerschaft mitsamt der für ihn dazugehörigen Angstvorstellung von einem bürgerlichen Familienleben. Anschließend führe man beide - zur Vermeidung des gesellschaftlichen Eklats - zunächst auf eine Reise und geleite sie schließlich zu einem Haus unweit der Stadt, um den Tag der Niederkunft zu erwarten, die mit einer Todgeburt endet, woraufhin beide letztlich getrennte Wege gehen. Wenn, wie im Falle des vorliegenden Romans "Der Weg ins Freie" von Arthur Schnitzler, besagter Freiherr am Ende dieses Lebensabschnittes seiner Zukunft genauso erwartungsvoll und optimistisch entgegensieht, mit denselben Vorfreuden auf "Glück und Leid", leichten Herzens, so unbeschwert und ungebunden wie vor seiner Affäre und Fast-Vaterschaft, so hat man das prototypische Beispiel für einen Menschen vorliegen, der gegenüber jeglicher Entwicklung immun zu sein scheint und über ein erstaunliches Verhältnis zur Realität verfügt.

Nun ist eine Geschichte vom 'gefallenen' Bürgermädchen und ihrem adligen Liebhaber nicht gerade als Novität zu bezeichnen. Dass sie dennoch erzählenswert ist, liegt zum einen an der Repräsentativität der Hauptfigur, eben jenem Georg von Wergenthin, sowie an ihrer Verknüpfung mit einem weiteren Handlungsstrang. Dieser führt zu einem gesellschaftlichen Kreise im höheren jüdischen Bürgertum, der sich um den Salon der Familie Ehrenberg konzentriert. Hier trifft Georg mit Bekannten zusammen wie dem Dichter Heinrich Bermann, den Geschwistern Golowski, dem Schriftsteller Nürnberger und diversen anderen. Politisch reicht das Spektrum vom Liberalen über die Sozialistin bis hin zum Zionisten; dominiert aber ist das Bild vom Intellektuellen und Künstler.

Hier wie auch bei anderen gemeinsamen Unternehmungen ergeht man sich im geistreichen Gespräch, plaudert über die schöne Kunst, die hohe Politik und die wichtigen Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens. Ein durch alle gepflegte Leichtigkeit mal stärker, mal schwächer aufscheinendes, dabei aber fast ständig präsentes Thema ist die aktuelle Situation der Juden vor dem Hintergrund des sich verstärkenden Antisemitismus. Anfeindungen im öffentlichen Leben, das Verhältnis der Juden zueinander sowie die Frage nach Grenzen und Möglichkeiten der Assimilation oder des noch jungen politischen Zionismus sind Gegenstand der Gespräche, deren Zeuge der selbst meist unbeteiligte Georg wird. Nahezu alle Positionen sind vertreten, sie verbleiben aber in und auch nach der Diskussion in ihrer jeweiligen und nicht vermittelbaren Einzelgültigkeit; mit der explizit gemachten Konsequenz: "für unsere Zeit gibt es keine Lösung, das steht einmal fest. Keine allgemeine wenigstens. Eher gibt es hunderttausend verschiedene Lösungen. [...] Jeder muß selber dazusehen, wie er herausfindet aus seinem Ärger, oder aus seiner Verzweiflung, oder aus seinem Ekel".

Dass dieses Fazit Heinrich Bermanns nicht nur auf diese eine Frage beschränkt ist, sondern die Unsicherheit und Orientierungslosigkeit weit darüber hinausgeht, zeigt sich in nahezu allen Bereichen; denen der Arbeit, der Kunst und des privaten Lebens. Denn die Wege, die hier von den einzelnen Figuren gesucht und begangen werden, verlaufen eher im Kreise, als dass sie in eine bestimmte Richtung führten. Bermanns künstlerische Arbeit beispielsweise, seine Entwürfe, seine Stücke, sein ganzes Schreiben ist vom schmerzhaften Bewusstsein genauester Beobachtungsgabe und gleichzeitiger Ziellosigkeit des Handelns und Gestaltens geprägt; gültige Bezugsgrößen scheinen nicht mehr vorhanden zu sein. Und so widerstreben die Figuren ihrem Schöpfer, entziehen sich ihm, zerfällt der Stoff unter den Händen des Schaffenden. Edmund Nürnberger gar, ebenfalls Schriftsteller, hat die wohl drastischste Konsequenz gezogen. Er ist der Verweigerer aus Einsicht: nach dem großen Erfolg seines Werkes, in dem "eigentlich schon das ganze heutige Österreich vorausgeahnt ist", hat er dem literarischen Betrieb den Rücken gekehrt und begnügt sich nun als hauptamtlicher Zyniker mit "Randbemerkungen zum Gang der Zeit", die mit ihrem Witz und ihrer Treffsicherheit zu auserlesenen Köstlichkeiten im Roman gehören. Auch menschlich eine der ansprechendsten Figuren, ist er dennoch für die Kunst gesehen eine tragische, denn der Grund für sein dichterisches Verstummen ist der Ekel - das destruktive, lähmende Resultat der Einsicht in die Macht- und Sinnlosigkeit künstlerischen Wirkens innerhalb der gegebenen Verhältnisse.

An einer relevanten und wirksamen Bezugsgröße für das Sein und Handeln fehlt es auch bei Georg. Er lebt gänzlich im und für das Jetzt; nur der Augenblick - sei es in Form eines Gedankens, einer Person oder Erinnerung - ist gültig und verfügt über eine bestimmte Bedeutung. Dies gilt für jeden einzelnen Moment, und da sie alle unabhängig von Vorherigem und Zukünftigem ohne Verbindung nur für sich allein stehen, gibt es letztlich nichts, das übergeordneten Sinn für sich beanspruchen könnte. Die gleiche Gültigkeit von praktisch allem hat eine allgemeine Gleichgültigkeit zur Konsequenz. Dies gepaart mit einer frappierenden Temperamentlosigkeit, Passivität und Willensschwäche lässt Georg ein Leben leben, das von einer belastenden Vergangenheit ebenso frei ist wie von ernsthaften Sorgen um die Zukunft. So problemlos das zunächst klingt, ist damit doch auch jede Entwicklungsmöglichkeit ausgeschlossen. Das Fehlen einer Sinn gebenden Instanz bewirkt ein gleichsam zeit- und geschichtsloses vor sich Hinleben, das selbst die Ereignisse eines ganzen Jahres mit Beziehung, Fast-Vaterschaft und Todgeburt auf die Beiläufigkeit einer Episode reduziert. Dem Leser bleibt bei all dieser an den Tag gelegten Indolenz wenig mehr als die Zuflucht zur Ironie, sofern er es nicht ohnehin bei kopfschüttelndem Mitleid für diesen kaum ernst zu nehmenden Anti-Helden belässt.

Was sich bei Georg auf diese Weise ausdrückt, zeigt sich bei den anderen Figuren in ähnlicher Form. Ein zur Permanenz gewordenes Schwanken zwischen verschiedenen Lebens- und Kunstentwürfen kennzeichnet fast das gesamte Personal des Romans. Heinrich Bermann und Georg von Wergenthin sind dabei lediglich die Figuren, an denen sich die Verhaltensweisen besonders signifikant zeigen. Zwar scheinen beide auf den ersten Blick unterschiedlicher kaum sein zu können, was sie aber eigentlich trennt, ist nicht viel mehr als die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Reflexion, über die Heinrich im Übermaß verfügt und von der Georg verschont bleibt. In der Sache und der Konsequenz ändert sich dadurch nichts: auch die bis ins Extreme ausgebildete Analysefähigkeit Heinrichs kann kein Ersatz für die fehlenden festen Punkte und verbindlichen Orientierungen sein, die produktives Handeln überhaupt erst möglich machen würden. Gerade die Konstellation Heinrich-Georg ist insofern aufschlussreich, als sie bei all ihrer wesensmäßigen Differenz doch Repräsentanten ein und desselben Phänomens sind; während Georg die Haltlosigkeit, Ziel- und Willenlosigkeit der Zeit ausschließlich lebt, indem er sie in Verhalten und Wahrnehmung umgesetzt hat, ist Heinrich derjenige, der all diese Phänomene auch denkt und reflektiert. Mit Heinrichs Überlegungen kann auch der Leser die Problematik in dieser 'durchdachten' Form nachvollziehen, gleichzeitig aber bleibt sie so auch in ihrer Unlösbarkeit zu erkennen, da weder sein noch Georgs Umgang mit ihr geeignet ist, dem allenthalben empfindlich spürbaren Identitäts- und Orientierungsverlust etwas entgegenzusetzen.

Schnitzler zeichnet in seinem Roman mit dem Gespür des Psychologen und dem Gestaltungsvermögen des Dichters das Zustandsbild einer Gesellschaft, deren Selbstverständnis mit den gewandelten Zeitbedingungen nicht mehr in Einklang steht und nun mit klarerem oder trüberem Bewusstsein darauf zu reagieren sucht. Der Situation des jüdischen Bürgertums kommt dabei besondere Beachtung zu, sind hier doch bisherige Identitätsentwürfe und Gewissheiten noch gravierender in Frage gestellt - nicht nur durch die allgemeinen Herausforderungen der Moderne, sondern auch aufgrund von Veränderungen wie sie etwa die zionistische Bewegung oder der sich ausbreitende Antisemitismus geschaffen haben.

Ein überzeugender "Weg ins Freie" gelingt keiner der Romangestalten; überzeugend aber ist die Nachzeichnung ihrer Suche. Die mit Schnitzler'scher Kunstfertigkeit in ihren Gesprächen herausgebildeten Figuren, die fein nuancierten Persönlichkeitsbilder und nicht zuletzt das präsent werdende Wien des Fin de siècle mit seiner viel beschworenen Kultur, viel geschmähten Dekadenz und viel unterschätzten Selbstironie machen dieses Zeit-Bildnis zu nicht nur aufschlussreicher, sondern darüber hinaus auch höchst unterhaltsamer Literatur.

Eingeladen dazu wird vom Insel Verlag, der den Text in einer Taschenbuchausgabe vorgelegt hat. Zur Zeittafel mit Informationen zu Werkentstehung, Biografie und Aufführungsdaten tritt ein Nachwort des Herausgebers Hansgeorg Schmidt-Bergmann, das die zentralen Aspekte des Romans beleuchtet und die Lektüre mit erweiterndem Hintergrundmaterial ergänzt.

Titelbild

Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie. Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hansgeorg Schmidt-Bergmann.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
464 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3458344942

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