La transgression à l'infini

Der erste Band von Michel Foucaults "Dits et Ecrits" in deutscher Übersetzung

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Didier Eribon hat sich in seiner 1989 erschienenen Foucault-Biographie vor allem für die Frage interessiert, wie sich der französische Philosoph in den Auseinandersetzungen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens "erfunden" hat, nicht um daran haften zu bleiben, sondern um sie zu denken und zu überschreiten. Seit dieser Bahn brechenden Arbeit ist es in der Foucault-Forschung en vogue, den Philosophen in ein intellektuelles und politisches Kraftfeld zu stellen und seine gegenstrebigen Denkbewegungen in ihrem historischen Prozess zu verorten. Immer wieder begegnet man einem Intellektuellen, der zeitlebens auf verschiedene Pferde setzte: nach dem bewährten Zugtier Phänomenologie nahm er sich den Wildfang (Post-)Strukturalismus vor, schwang sich auf das publizistische Schlachtross, um Studentenrevolte und politische Gefangenenbewegung global voranzupreschen und ließ sich gegen Ende seines Lebens gemeinsam mit wechselnden Begleitern (Sartre, Blanchot, Deleuze u. a.) im gemächlich parierenden Sechsspänner des intellektuellen Engagements zujubeln. Bis heute spukt Foucault als Geisterreiter über das weite Feld der Philosophie. Ähnlich, wie es Jacques Derrida in "Spectres de Marx" für Karl Marx feststellte, lässt sich auch über Foucault festhalten: Es gilt, auf magische Weise ein Gespenst auszutreiben, die mögliche Rückkehr einer Macht zu bannen, die für böse an sich gehalten wird und deren dämonische Drohung fortfährt das Jahrhundert heimzusuchen. Daran mögen auch die Willensbekundungen Schuld sein, die Foucault vor seiner Abfahrt nach Polen im September 1982 für den Fall, dass ihm ein Unglück zustieß, testamentarisch festhielt. Zentraler Satz der Verfügungen ist: "Keine posthume Veröffentlichung". Wie hält man es mit einer Philosophie, deren größter Teil mit dem Philosophen begraben werden sollte - vor allem die unveröffentlichten Vorlesungen am Collège de France, wo er von 1971 an dreizehn Jahre lehrte, aber auch die unabgeschlossene Arbeit zur "Histoire de la sexualité", weitere Manuskripte, die Briefe oder die zweite Dissertation zu "Genèse et Stucture de l'Anthropologie de Kant", deren Typoskript sich in der Bibliothek der Sorbonne befindet?

Glücklicherweise ist mit diesem Wunsch nicht sehr konsequent umgegangen worden, wenn man die 1998 veröffentlichte fulminante Vorlesungsreihe "Il faut défendre la société" zugrunde legt, die einen klaren Verstoß gegen Foucaults Testamentsverfügung darstellt. Gesteigert wird die Freude sogar noch durch den Umstand, dass von 1994 an in vier voluminösen Sammelbänden entlegene oder vorher nicht publizierte Aufsätze, Vorworte, Interviews und Rezensionen Foucaults, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald, unter dem Titel "Dits et Ecrits" veröffentlicht wurden. Diese Bände versammeln schwer zugängliche bzw. schwer auffindbare Texte, die Foucault zu seinen Lebzeiten nicht zusammengestellt hat. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Neuausgabe von Foucaults zentralen Monographien; gleichwohl sind diese darin subkutan wiederzufinden: als Auszüge, die Foucault vorab veröffentlichte oder als Gegenstand späterer Erörterungen. Im Zentrum dieser Anthologie stehen somit die KonTexte der großen Arbeiten "Histoire de la folie", "Les mots et les choses", "L'archéologie du savoir", die von einer einleitenden biographischen Zeittafel orchestriert werden. Mit dem Erscheinen des ersten Bandes dieser "Dits et Ecrits" auf deutsch, wobei sämtliche Texte, auch die schon hierzulande verstreut veröffentlichten, neu übersetzt wurden, sollte es möglich sein, die Beschäftigung mit Foucault auf eine neue Grundlage zu stellen. Die in diesem ersten Band versammelten Texte der Jahre 1954 bis 1969 geben vor allem jenen eine Chance ihr Urteil zu revidieren, die Foucault - fußend auf dessen Prophezeiung in "Les mots et les choses", "der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand" - immer wieder als Totengräber der geheiligten Werte des Humanismus verunglimpft haben. Dass ihm nichts ferner lag, belegen die im ersten Band abgedruckten zahlreichen Interviews und Stellungnahmen, in denen Foucault darum kämpft, diese Fehl-Lektüren auszuräumen.

Im Rahmen seiner kritischen Reflexion konkretisiert sich Foucaults Plädoyer stets für die Differenz - das "Knistern des Unstimmigen" - konsequenterweise auch als theoretische Auseinandersetzung mit solchen gesellschaftlichen Gruppen, die die moderne Strukturierung der Gesellschaft an den Rand gedrängt hat. Foucaults Arbeiten über die Geschichte des Gefängnisses oder die Bedeutung des Wahnsinns stehen hierfür exemplarisch. Die tiefe Skepsis Foucaults gegenüber jeglichen - politischen wie philosophischen - Formen totalitärer Systeme und ihren absoluten Wahrheitsansprüchen ist als Reflex seiner soziohistorischen Position zugleich ein Echo der Stimmen seiner philosophischen Vorgänger. Innerhalb des Diskurses der kritischen Selbstreflexion der Moderne knüpft Foucault - ähnlich wie seine Mitstreiter Derrida, Klossowski und Deleuze - an jene Tradition philosophischer Kulturkritik an, deren Anfang das Werk Friedrich Nietzsches markiert. In einem Brief vom Juli 1967 an Daniel Defert schreibt Foucault programmatisch: "Ich lese Nietzsche; ich glaube, ich beginne zu verstehen, warum er mich schon fasziniert hat. Eine Morphologie des Willens zum Wissen in der europäischen Zivilisation, die man bisher zugunsten einer Analyse des Willens zur Macht vernachlässigt hat." Es gibt zweifelsohne keinen Philosophen, dessen Reflexionen im Denken der Poststrukturalisten tiefere Spuren hinterlassen hätten als Nietzsche. Dabei offenbart vor allem Foucaults Ansatz, die nietzscheanische Perspektive auf unsere neuzeitlich-moderne Kultur fortzuschreiben, zugleich weitere Verwandtschaften innerhalb der philosophischen Tradition des 20. Jahrhunderts. In Frankreich darf als ein wichtiger Vorläufer nicht nur der Ideen, sondern mehr noch des Stils der Poststrukturalisten der Dichter und Philosoph Georges Bataille nicht unerwähnt bleiben, mit dem sich Foucault ausführlich auseinandergesetzt hat.

In seiner Hommage an Bataille unter dem Titel "Préface à la transgression" (1963), eine der zentralen Schriften des vorliegenden Bandes, verknüpft Foucault dessen Denken zur Sexualität mit Nietzsches Vorstellung vom Tod Gottes: "Das Sprechen, das wir der Sexualität verliehen, ist durch Zeit und Struktur dem Sprechen zeitgenössisch, mit dem wir uns selbst verkündet haben, dass Gott tot sei. Die Sprache der Sexualität, die Sade von seinen ersten Äußerungen an in einem einzigen Diskurs den gesamten Raum durchlaufen ließ, zu deren Souverän sie auf einen Schlag werden sollte, hat uns bis zu einer Nacht emporgehoben, in der Gott abwesend ist und in der sich alle unsere Handlungen an eben jene Abwesenheit richten, in einer Entweihung, die sie zugleich bezeichnet, beschwört, sich in ihr erschöpft, und sich durch sie auf ihre leere Reinheit als Überschreitung zurückgeführt findet." Nach Foucault zeichnet sich "auf dem Grunde der Sexualität, ihrer durch nichts jemals begrenzten Bewegung [...] und dieser Reden [discours] über Gott, die das Abendland seit so langer Zeit gehalten hat" eine einzigartige Erfahrung ab: die Erfahrung der Überschreitung (transgression). In "L'erotisme" beschäftigt sich Bataille mit dem wechselseitigen Zusammenhang und Bedingungsverhältnis von Sexualität, Tod und gesellschaftlichen Sanktionen. Da die Sphäre der Sexualität und des Todes gleichermaßen aus dem 'normalen' gesellschaftlichen Funktionszusammenhang herauszufallen scheinen, werden sie in allen bekannten Kulturen mit Tabus belegt. Es gibt jedoch, wie Bataille und mit ihm Foucault meint, einen unauflöslichen Nexus zwischen den kulturspezifischen Verboten und der Vorstellung der Grenzüberschreitung, die jene provozieren. Das Verbot und die Verletzung desselben gehören aufs engste zusammen, denn durch die Überschreitung wird das Tabu paradoxerweise nicht negiert, sondern findet in ihr eine souveräne Bestätigung. Foucault knüpft nun genau an die Tabukonzeption Batailles und dessen Idee der Überschreitung an. Weit davon entfernt, das Verbot zu untergraben, fungieren die einzelnen Grenzüberschreitungen, so Foucaults Interpretation von Batailles Erosphilosophie, als dessen Affirmation und nachdrückliche Beglaubigung: "Die Überschreitung ist eine Geste, die die Grenze betrifft; dort, in dieser Schmalheit der Linie, zeigt sie sich blitzartig als Übergang, vielleicht aber auch in ihrem gesamten Verlauf und sogar in ihrem Ursprung. Die Strichlinie, die sie kreuzt, könnte durchaus ihr ganzer Raum sein. Das Spiel der Grenzen und der Überschreitung scheint von einer schlichten Beharrlichkeit beherrscht: Die Überschreitung durchbricht eine Linie und setzt unaufhörlich aufs Neue an, eine Linie zu durchbrechen, die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurückweicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren. [...] Die Überschreitung treibt die Grenze bis an die Grenze ihres Seins; sie bringt sie dazu, im Moment ihres drohenden Verschwindens aufzuwachen, um sich in dem wiederzufinden, was sie ausschließt (genauer vielleicht, sich darin zum ersten Mal zu erkennen), und um ihre tatsächliche Wahrheit in der Bewegung ihres Untergangs zu erfahren." Gleichwohl bleibt in jeder dieser transgressions ein metaphysischer Rest, der nicht zu tilgen ist und in seiner Struktur Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkehr ähnelt: "Die Überschreitung öffnet sich einer schillernden und immer wieder bejahten Welt, einer Welt ohne Schatten, ohne Dämmerung, ohne dieses Gleiten des Nein, die die Früchte anbeißt und in ihr Herz den Widerspruch mit sich selbst einsenkt. Sie ist die sonnige Kehrseite der teuflischen Verneinung: sie hat Teil am Göttlichen, oder besser noch, sie eröffnet von jener Grenze her, die das Sakrale anzeigt, den Raum, in dem das Göttliche sich vollzieht. Dass eine Philosophie, die sich die Frage nach dem Sein der Grenze stellt, zu einer Kategorie wie dieser zurückfindet, ist offenkundig eines der zahllosen Zeichen dafür, dass unser Weg eine Rückkehr ist und dass wir von Tag zu Tag immer griechischer werden." Für Foucault ist es unabdingbar, "über diese Erfahrung zu sprechen und sie genau in der Höhlung der Ohnmacht ihrer Sprache zum Sprechen zu bringen, genau da, wo die Worte ihr fehlen, wo das Subjekt, welches spricht, ohnmächtig wird, wo das Schauspiel ins nach innen verdrehte Auge umschlägt. Genau dort, wohin Batailles Tod seine Sprache versetzt hat." Gut strukturalistisch mutet Foucaults Fazit an: "Diese 'Sprachnot', in der sich unsere Philosophie gefangen findet und deren sämtliche Dimensionen Bataille durchquert hat, ist vielleicht gar nicht jener Verlust der Sprache, den das Ende der Dialektik anzuzeigen schien: Sie ist vielmehr das eigentliche Versenken der philosophischen Erfahrung in die Sprache und die Entdeckung, dass sich in ihr und in der Bewegung, in der sie sagt, was nicht gesagt werden kann, eine Erfahrung der Grenze vollzieht, so wie die Philosophie sie jetzt unbedingt wird denken müssen." Foucaults Re-Lektüre Batailles gehört ohne jeden Zweifel zu den ergiebigsten Lesefrüchten, die man im ersten Band der "Dits et Ecrits" sammeln kann, nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihr das ambivalente Verhältnis poststrukturalistischer Positionen zum Strukturalismus artikuliert. Foucaults These, wonach Sinn immer ein Effekt, ein Resultat sprachlicher Strukturen ist, bedeutet, dass die Einsicht der prinzipiellen Unhintergehbarkeit der Sprache und ihrer Struktur tatsächlich die Schnittmenge strukturalistischen und poststrukturalistischen Denkens markiert. Im Poststrukturalismus wird mithin die Idee der Struktur nicht einfach aufgegeben, sondern radikalisiert: Alles, so könnte man die radikalisierte Position umschreiben, ist Struktur - und nirgends hat sie ein Zentrum oder eine Grenze.

Das Lavieren zwischen strukturalistischen und poststrukturalistischen Denkbewegungen in Foucaults Texten ist nicht ohne Kritik geblieben. In einem Vortrag am Collège philosophique am 4. März 1963 kritisierte Jacques Derrida Foucaults Aussagen zu Descartes' erster Meditation in seiner "Historie de la folie". Der von Derrida beklagte "strukturalistische Totalitarismus" berührte Foucault, der sich explizit in seinen Texten bemühte, seine "Archäologie" vom Strukturalismus abzugrenzen. Die Arbeiten Foucaults bis 1970 bereichern den Strukturalismus aber insofern, als sie ihn auf das Feld der Ideengeschichte ausdehnen und damit den Aspekt diachronischer Vorgänge der Entstehung und Entwicklung sprachlicher Systeme mit einbeziehen. Besonders in der "Histoire de la folie" wird deutlich, wie sich Foucault eine strukturalistische Geschichtsschreibung denkt. Das Thema des Textes ist eine Geschichte des Wahnsinns, die sich nicht von der Psychopathologie oder der Psychiatrie leiten lässt, sondern von der These, dass der Wahnsinn durch eine ursprüngliche Trennung von Vernunft und Nicht-Vernunft entstanden ist. Wahnsinn wird demnach als ein Effekt verstanden, der aus einer Differenz entsteht, die ebenso wichtig für die Vernunft wie für den Wahn ist. Die Struktur, die durch diese Differenz erzeugt wird, "ist konstitutiv für das, was Sinn und Nicht-Sinn ist, oder vielmehr für jene Reziprozität, durch die sie miteinander verbunden sind. Diese Struktur allein kann über jene allgemeine Tatsache berichten, daß es in unserer Kultur keine Vernunft ohne Wahnsinn geben kann." Trotz der Vereinnahmung von Foucault für die Sache des Strukturalismus, die vor allem durch Roland Barthes' Rezension des Buches in der Zeitschrift "Critique" angestoßen wurde, lassen sich auch in "Histoire de la folie" bereits poststrukturalistische Motive finden, die es nicht erlauben, Foucaults Denken in toto als strukturalistisch zu (v)erklären. Foucaults frühe Arbeiten verdanken sich seiner Methode der "Archäologie", die er in Anlehnung an den Strukturalismus entwickelt hat. Sein Buch "L'archéologie du savoir" ist der Versuch, diese Methode als rein theoretisches Programm zu reflektieren, ohne die Abhängigkeiten vom Strukturalismus allzu deutlich werden zu lassen. Dennoch teilt Foucault viele seiner Grundprämissen: Am deutlichsten zeigt sich das daran, dass auch die "Archäologie" im wesentlichen Dokumente untersucht, genau wie Lévi-Strauss in seiner Mythenanalyse, und diese nicht mehr auf einen jenseits von ihnen liegenden Sinn interpretiert, sondern in ihrem Verhältnis zueinander untersucht. Der "Archäologie" geht es nicht um Kontinuität, sondern um Diskontinuität, nicht um das Regelmäßige, sondern den Bruch, nicht um eine globale Geschichte, sondern um Fragmente, Serien, Ausschnitte und Grenzen. Auch das Subjekt taucht nicht mehr als Motor der Geschichte auf, sondern verschwindet im Diskurs. Obwohl bereits hier poststrukturalistische Ideen anklingen, steht Foucaults Methode noch immer mit einem Bein im "strukturalistischen Feld", dessen Konstitution Barthes als zwei typische Operationen gedeutet hat: "Zerlegung und Arrangement". Das Untersuchungsobjekt wird in seine kleinsten Einheiten zerlegt, deren Differenzen untereinander den Sinn hervorbringen. Als Einheiten haben sie allein keine Bedeutung; erst ihr Zusammenhang in einer Struktur schafft diese Bedeutung.

Im Unterschied zu Barthes ist Foucault vielleicht derjenige Philosoph, dessen Haltung Ende der 60er Jahre am stärksten zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus schwankte. Vielleicht verdankt sich dessen rigide Ablehnung des Etiketts "Strukturalist" der Befürchtung, dass die Originalität des eigenen Ansatzes durch dessen Einordnung in den Kontext einer philosophischen Schule verkannt werden könnte. Trotz seiner ambivalenten Haltung kann man sagen, dass sich Foucault ab 1966 (dem Datum des Erscheinens von "Les mots et les choses") immer mehr vom Strukturalisten zum Poststrukturalisten entwickelt hat. Ein zentraler Antrieb dabei war sicherlich ein Problem, das auch die Schriften der Zeit reflektieren, aber nicht endgültig beantworten: Wie kommt es, dass eine Episteme durch eine andere abgelöst wird? Ein historisches Denken, das - wie bei Foucault - radikal alles dem geschichtlichen Verlauf unterwerfen möchte und jegliches Postulat einer überhistorischen metaphysischen Struktur als Transzendentalismus ablehnt, muss sich zu dieser Frage äußern. Dieser Frage hatte sich Foucault zwar schon in "L'archéologie du savoir" gestellt, doch ist er erst 1971 mit seinem Entwurf einer "Genealogie" in der Schrift "Nietzsche, la généalogie, l'histoire" zu einem Ergebnis gekommen. Die letzten Texte des ersten Bandes der "Dits et Ecrits" lassen diese endgültige transgression zum Poststrukturalismus zumindest schon erahnen. Seit den 70er Jahren - die Übernahme des Lehrstuhls für die Geschichte der Denksysteme am Collège de France ist hier sicherlich die Zäsur in Foucaults intellektueller Biographie - und nicht zuletzt unter dem schon erwähnten, aber nun verstärkten Einfluss seiner Nietzsche-Lektüre ändern sich Foucaults Vorstellungen über das Funktionieren des Denkens in einer wesentlichen Hinsicht. Erschien er bis Ende der 60er Jahre als Archäologe, der sich ablösende statische Ordnungen rekonstruierte, so gewinnt in den Folgejahren ein dynamisches Moment entscheidende Bedeutung: Foucault wird zum Theoretiker der "Macht", einer letztlich metaphysischen Entität, die den Willen zur Wahrheit regiert und den Kern allen Denkens bildet. Die Folgebände der "Dits et Ecrits" reflektieren diese Zäsur und untermauern sie. Die damit zu erwartenden neuen Einblicke auch in das Werk des späten Michel Foucault, das der französische Althistoriker Paul Veyne einmal zutreffend "das bedeutsamste Denkereignis unseres Jahrhunderts" genannt hat, tragen dann hoffentlich zu einer angemesseneren Beurteilung des französischen Philosophen auch durch den Mainstream der institutionellen Philosophie im deutschen Sprachraum bei. Vielleicht gelingt es ja sogar, das Denken Foucaults nicht ursächlich aus seiner "schlecht ausgelebten und verarbeiteten Homosexualität" heraus zu erklären; damit wäre man immerhin einen Schritt weiter als der Arzt der berühmten Ecole Normale Supérieure, der dem jungen Foucault diese Deutung als Ursache seiner psychischen Störungen offerierte und die in manchen Forschungsarbeiten immer noch nachgeschrieben wird.

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Daniel Defert / Francois Ewald (Hg.): Michel Foucault Schriften - Dits et Ecrits. Band I. 1954-1969.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans Dieter Gondek und Hermann Kocyba.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
1075 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3518583107

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