Illusionslosigkeit und blinder Glaube

Über die Neuausgabe von Per Olov Enquists historischem Roman "Der fünfte Winter des Magnetiseurs"

Von Felix SaureRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Saure

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mesmer, der alle Erregungszustände mit seiner magnetischen Methode zu beschwichtigen verspricht, bringt zunächst selbst eine neue Erregungskrankheit nach Paris: die Mesmeromanie". So beschreibt Stefan Zweig in einem Essay die Faszination, die die Versuche und Behandlungen des süddeutschen Arztes Franz Anton Mesmer (1734-1815) von Wien bis Paris erzeugten.

Die Bedeutung des Begründers des "Mesmerismus" und Entdeckers eines vermeintlichen "thierischen Magnetismus", beruht nicht nur auf seinem Anteil an der Vorgeschichte der Psychotherapie, sondern ebenso auf der "Mesmeromanie". Auf die beziehen sich die Englisch Sprechenden, wenn sie für "faszinieren, fesseln" eines Publikums das Verb "to mesmerize" verwenden. Der Einfluss des Magnetiseurs bis in die höchsten Gesellschaftskreise war Ende des 18. Jahrhunderts beträchtlich. Nicht eingelöste Erwartungen oder die aus unterschiedlicher wissenschaftlicher und politischer Richtung erhobenen Vorwürfe führten deshalb mehrfach zu seiner Ausweisung und Verfolgung. Manifestiert hat sich die wechselhafte Karriere des "thierischen Magnetismus" nicht zuletzt in der unsteten Biographie Mesmers.

Dessen Leben und Wirken liegt auch Per Olov Enquists Roman "Der fünfte Winter des Magnetiseurs" zugrunde. Und genau wie der noch in aufklärerischer Denktradition stehende historische Mesmer befindet sich auch der fiktive Wunderheiler Friedrich Meisner immer wieder auf der Flucht. Der Protagonist in dem frühen Werk des Schweden findet sich zu Beginn des Romans in einer Höhle wieder, bevor die Bauern der Umgebung schließlich doch seiner habhaft werden. Sie wollen sich an dem Betrüger, dem "Schweinetöter und Notzüchtiger" rächen. Aus der Gefangenschaft der getäuschten Landbewohner kann er sich aber bald wieder lösen - Meisners Faszinationskraft und Überredungskunst lässt den Bewacher zum Befreier werden, zugleich gewinnt er einen ersten Anhänger. Mit ihm wandert der Magnetiseur im Herbst durch das Süddeutschland des Jahres 1793; zu einer Zeit, als Epidemiologie allein im Verschließen der Stadttore bestand.

Derartige Grenzen sind für Meisner zunächst nicht überwindbar. Sein Werkzeug sind Menschen, deren Zutrauen und Begeisterung er bis zur Verzückung und Ekstase erzeugt und gestaltet. An einem Seeufer, wo gerade noch "die Wellen in kleinen, gleichmäßigen Reihen auf das Ufer zuwanderten", findet er in einem wohlhabenden Kaufmann einen ersten Interessenten an der Kraft des Magneten und der Kunst seines Einsatzes - Meisners erstes Opfer. Für die Karriere braucht der Magnetiseur aber neben finanziellen Mitteln auch die Gesellschaft, die Bürger einer kleinen Stadt, eine "Handvoll Menschen, die für die Vision empfänglich sind". Die weitere Dynamik der Handlung entsteht nicht durch die Flucht, die ist bald beendet und fungiert im Roman lediglich als Exposition, sondern durch die Etablierung des Wunderheilers in dem fiktiven Städtchen Seefond am Bodensee.

Und hier wird der Klappentext irreführend. Dort heißt es: "die Fortschritte der Aufklärung drohten bereits in einer neuen Welle des Irrationalismus unterzugehen". Solcher impliziten Wertungen enthält sich Enquist aber konsequent. Die Variationsbreite der Erzählformen im Roman entspricht der Palette der Denkmuster und Weltsichten, die den Figuren zugrunde liegt. In Form von Tagebuchaufzeichnungen eines zeitgenössischen Arztes, als Reflexionen des Protagonisten selbst, als Kommentar eines "Meisner-Forschers" und im Erzählerbericht präsentiert der Autor die unterschiedlichen Ansichten und Erlebnisse. So wie die Erzählstruktur immer wieder formal durchbrochen wird, sind auch die grundsätzlichen Ansichten vieler Figuren dynamisch. In der Auseinandersetzung mit der Kunst des Magnetiseurs brechen Vorurteile auf, werden Standpunkte revidiert und neue Überzeugungen geschaffen.

Da ist der bahnbrechende Erfolg Meisners, die Heilung eines im Kindesalter vergewaltigten blinden Mädchens. Das Mittel ist eine einfühlsame Gesprächstherapie, keine isolierte Operation. Vater des Mädchens ist Claus Selinger, Arzt und dann dankbarer "wissenschaftlicher Kontrolleur" bei den folgenden Séancen. In denen geht es genauso um Gruppendynamik und Tiefenpsychologie, wie um die Idee des "Fluidums", einer natürlichen Kraft, die fließend alles durchdringt und die nachzuweisen und zu beherrschen die Rolle des Magnetiseurs ist. Er hat einen exklusiven Zugang zu seinen Patienten. Die emotionalen Dimensionen der magnetischen Kuren existieren bei den Behandlungen der Schulmediziner nicht - Blindheit ist für sie allein eine Krankheit des Auges und nicht des Unterbewusstseins.

Genau wie Mesmer in Wien bei der Behandlung und umstrittenen Heilung des blinden, Klavier spielenden Fräuleins Paradies ein "verzweifeltes Vorpostengefecht um eine neue Psychotherapie" (Stefan Zweig) führt, so lässt sich auch Meisners Erfolg nicht mit den immer noch fragilen wissenschaftlichen Auffassungen der spätaufklärerischen Medizin zusammenbringen. Trotz der Dankbarkeit für die Genesung seiner Tocher machen die auf Massensuggestion und quasireligiöser Begeisterung beruhenden Triumphe des Magnetiseurs Selinger dennoch nicht blind. Obwohl das Wirken Meisners dem geordneten wie beschränkten Leben und Denken des Arztes neue Dimensionen erschließt, bleibt sein aufklärerischer Zweifel bestehen. Er entlarvt schließlich einen plumpen Betrug, der nicht von dem Wunderheiler ausgeht, den dieser aber als eine Grundlage der Behandlung von weiteren Patienten duldet.

Dennoch verändert sich Selinger in dem Winter, in dem der Magnetiseur in Seefond wirkt. Er ist es, der in einem Resümee am Ende des Romans die Frage nach der kulturellen Definitionsmacht einer rein rationalistischen Welterklärung stellt. "In Seefond ist alles progressiv", ist die Meinung des "Encyclopédie"-Besitzers noch beim Auftauchen Meisners. Das Gemeinwesen ist nach aufklärerischem Maßstab zivilisiert, wohlhabend und gut organisiert. Doch auch oder gerade in dieser mustergültigen Stadt erreicht das vernunftmäßige Denken seine Grenzen. Der Arzt erkennt: "Wenn wir ihm dort drinnen verfallen konnten, dachte ich, dann bedurften wir seiner, dann haben wir vergessen, etwas in unserer Stadt aufzubauen, in dieser unserer Stadt." Genauso wird Selingers enger Freund Arnold Steiner in seiner Liebe zur geheilten Tochter des Kollegen eines Defizits gewahr. Der kühle Rationalist, dessen soziale und professionelle Reputation in dem Grade sinkt, in dem sich der Aufstieg Meisners in Seefond vollzieht, wird sein Weltbild und Menschenverständnis um die Ebenen der Emotionen und des Glaubens ergänzen.

"Jetzt, da noch die Vibrationen spürbar sind, die der französische Vulkanausbruch ausgelöst hat, ist alles in der Schwebe und ohne Konturen", so beschreibt Selinger die aktuelle Lage. In dieser sozialen und ideengeschichtlichen Umbruchssituation reicht Meisners Anspruch weiter, ist nicht beschränkt auf die Therapie einzelner Personen. Der Magnetiseur plant ein Werk über die "Führung des Staates", um sein Konzept des "Fluidums" gesellschaftlich und politisch wirksam werden zu lassen und einer neuen Ordnung Konturen zu geben. Dieses Vorhaben ist Ausdruck des Zenits, des "eigentümlichen Rausches", der zugleich immer Verlockung sowie Gefahr ist und der schließlich den Absturz einleitet. Zugleich aber entpuppt sich das Denken Meisners dadurch als umfassend, er ist ebenso romantischer Künstler wie Mediziner. Seine Ideen beziehen sich nicht auf eine Welt, die aus sorgsam geschiedenen Wissenschaften und digitalen Begriffssystemen besteht. Die Beherrschung des "Fluidums" kann vielmehr Disparitäten auf jeder Ebene lösen. Gleichzeitig verbindet diese Kraft den individuellen Menschen mit der sozialen Gesamtheit und schließlich mit dem Kosmos. Davon geht auch der historische Franz Anton Mesmer in seinem resümierenden Werk "Mesmerismus. Oder das System der Wechselwirkungen, Theorie und Anwendung des thierischen Magnetismus als die allgemeine Heilkunde zur Erhaltung des Menschen" (1814), aus. Dem ersten Teil über die "Physik" folgt ein zweiter Teil über die "Moral" - mit einem Verfassungsentwurf und der Einleitung zu einem Strafgesetzbuch.

Enquists Roman ist keine literarische Bearbeitung des Magnetismus als wissenschaftshistorisches Phänomen, sondern vielmehr eine ästhetisierte Studie der "Mesmeromanie", der sozialen Auswirkungen eines Denkmodells, das über keine positivistischen Filter und wissenschaftlichen Schranken verfügt und so den Keim der Überbeanspruchung bis zum Untergang schon in sich trägt. Auch die Bedeutung von Thomas Manns Cipolla und E. T. A. Hoffmanns Alban erwächst nicht nur aus der Wirkung auf einzelne Patienten oder Kandidaten, sondern ebenso aus dem sozialen Einfluss ihrer Tätigkeit. Durch die Vor- und Verführungen des Protagonisten in Manns Erzählung "Mario und der Zauberer" genauso wie durch die Behandlungen des Magnetiseurs in Hoffmanns gleichnamigem Text wird die Grenze zwischen unmittelbar Beteiligten und Publikum verwischt. Enquist steht mit seinem Frühwerk in dieser Tradition der literarischen Mesmerismus-Bearbeitungen.

Der Autor erhielt für sein Werk "Der Besuch des Leibarztes" auf der diesjährigen Leipziger Büchermesse den erstmalig vergebenen deutschen Bücherpreis für internationale Belletristik. In dem historischen Roman behandelt er die Karriere und den Niedergang des aufklärerischen Mediziners und Staatsreformers Struensee am Hofe des wahnsinnigen dänischen Königs Christian VII. Nun liegt mit "Der fünfte Winter des Magnetiseurs" auch der dritte Roman des Schweden wieder auf deutsch vor, im Jahre 1966 war die Übersetzung erstmalig erschienen. Seine wiederholte poetische Beschäftigung mit dem Widerstreit von Irrationalismus und Vernunft begründet Enquist mit der biographischen Erfahrung in einem Land, das in seinem schnellen Modernisierungsprozess sowohl von irrational-religiösen Bewegungen wie von den sozialen Ideen der Aufklärung geprägt wurde. Während in Schweden diese Auseinandersetzung "politisch fruchtbar gemacht" worden sei, wie der Autor im Interview erläutert, verweist ein Satz des Romans auf eine andere historische Parallele. Das "Wellental", in dem sich Meisner befindet, bevor er seinen erneuten Aufstieg in Seefond beginnt, "hätte auch im Jahre 1932 eintreffen können". Das Buch aber endet mit einer Gerichtsverhandlung, in der das Urteil über den massenwirksamen Zauberer noch nicht gesprochen ist.

Titelbild

Per Olov Enquist: Der fünfte Winter des Magnetiseurs. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
264 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446201297

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