Balkanische Konflikte, Entfremdung privat

"Sprache im technischen Zeitalter" im Mai 2002

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durch die nah- und mittelöstlichen Auseinandersetzungen der letzten Monate ist eine Weltgegend in den Hintergrund getreten, die jahrelang durch Kriege erschüttert wurde und deren Probleme auch jetzt noch keinesfalls gemildert sind: Kaum jemand spricht noch von Südosteuropa. Sogar die Nachrichten vom Prozess gegen Milosevic, der die Rolle des Schurken hat übernehmen müssen, werden bei mangelnder Qualität der Anklagezeugen immer seltener.

Das Mai-Heft der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter" weckt die notwendige Erinnerung. Vor dem 11. September konzipiert, ging es den Herausgebern schon damals darum, einen antizyklischen Akzent zu setzen gegen die Massenmedien, die nur in ereignisreichen Zeiten intensiv über die Region berichten. Autoren aus Ungarn (György Konrád), Ungarn (Mircea Cartarescu), Kroatien (Slawenka Drakulic), Albanien (Ismail Kadare), Bosnien (Dževad Karahasan) und Jugoslawien (Dragan Velikic) sind beteiligt.

Einig sind sich die Beiträger und die Beiträgerin in der Ablehnung jeglichen Nationalismus und ebenso in der Forderung, ethnische Differenzen nicht nur auszuhalten, sondern sie als Bereicherung zu begreifen. Doch bleiben die meisten Essays auf der Ebene von Erscheinung und Wertung; analytisch erfährt man wenig. War das Zusammenleben ethnischer Gruppen in vornationalistischer Zeit wirklich so harmonisch, wie Cartarescu meint und mit Anekdoten zu belegen sucht - oder verweist nicht die tradierte Anekdote, die wider Erwarten gut ausgeht, auf die gegenläufige Erfahrung schon in früheren Jahrhunderten, es müsse zum Konflikt kommen? Warum entstanden die Nationalismen im 19. Jahrhundert, warum blieb ihre zerstörerische Wirkung in Titos Diktatur wohltuend unter Kontrolle, bevor sie erneut die Oberhand gewannen?

Auf letztere Frage versucht immerhin Karahasan eine Antwort zu finden: Er macht die Entpolitisierung der jugoslawischen sozialistischen Gesellschaft dafür verantwortlich, dass selbst diejenigen, die sie befürworteten, sie doch nicht so sehr als ihr Eigenes empfanden, dass sie sie energisch verteidigten. Das klingt überzeugend; und doch ließe sich fragen, ob der Widerspruch nicht tiefer in der Sache selbst liegt, ob die Entpolitisierung nicht auch Voraussetzung war, ein gewisses Maß an zeitweiliger Stabilität erst zu gewinnen.

Inwieweit es ein Positives gibt, das aus der gegenwärtigen Krise helfen könnte, ist umstritten. Recht umstandslos begrüßt Cartarescu den "Sieg der demokratischen Kräfte" in Rumänien, der das Land zum "legitimen Partner der NATO, der die westliche Meinung über die Balkankonflikte teilte"; vermutlich darf man von Dichtern nicht erwarten, dass sie eine Ahnung vom nunmehr ruinierten Völkerrecht haben. Skeptischer scheint Slawenka Drakulic, die verstärkt seit dem 11. September eine "Verbreitung von Angst" und deshalb nun einen "Totalitären Zustand" erreicht sieht. Auch für Karahasan lockt mit dem Westen kein Paradies, sondern er konstatiert eine "vom neoliberalen Fundamentalismus angegriffene Gesellschaft", die auf dem Wege ist, genausowenig überhaupt eine Bezeichnung als Gesellschaft zu verdienen wie Jugoslawien vor dem Zerfall.

Hier kann man zustimmen und hätte doch gern den Zusammenhang von neoliberaler Globalisierung mit dem wachsenden Festungsnationalismus in den reichen Zentren einerseits, mit den verzweifelten Nationalismen in den in die Verelendung gezwungenen Randgebieten andererseits herausgearbeitet.

Wo Realität nichts Positives zu bieten hat, liegt dagegen die Flucht in den vorgeblich so einzigartigen Bereich einer eigentlichen Dichtung nahe. Auch manche der Autoren von "Sprache im technischen Zeitalter" sind nicht dagegen gefeit: Konrád setzt "echte Literatur" gegen den verengten Blick der Nationalisten, als hätte nicht Kunst, auch große Kunst, vielfach sich an nationalen Interessen orientiert. Dennoch sieht auch Velikic, freilich parallelisiert mit der Wirklichkeit, die Künste als "Diskurs der Differenz und der Instabilität", und Karahasan unterscheidet radikal die Arbeit der Dichter von der der Politiker. Doch ist das keine Lösung. Um eine Bemerkung Hanns Eislers zu paraphrasieren: Zwar mochte er sich nicht mit Politik befassen, doch befasste sich die Politik mit ihm; und so zeigt seine Abwehr im politischen Essay die Unmöglichkeit jener Abwehr und damit, dass jener Fluchtraum nicht besteht.

Was bringt das Heft weiterhin? Gedichte von Rudolf Bussmann, Matthias Politycki und Joachim Sartorius halten Impressionen einer Korea-Reise fest. Am ehesten können die Bussmanns ohne die Kenntnis dieses Landes, ohne dass sie Erinnerungsstütze wären, bestehen. Formal mäßig innovativ verbleibt die von Gerhard Falkner und Greg Bond übertragenen Lyrik des verstorbenen walisischen Dichters R. S. Thomas im obskur Bäuerlich-heimatlobenden. Erhellend ist der Einblick in die Schreibmethode Thomas Meineckes, den ein Gespräch des Autors mit Ulrich Rüdenauer erlaubt. Das "Weihnachten" in einem Romanmanuskript Sherko Fatahs besteht aus dem grotesken Versuch von vier Männern, sich am Weihnachtsabend einen Schwan zu fangen und als Braten zuzubereiten. Absehbar kommt es nicht zum kulinarischen Genuss; statt dessen bietet Fatah eine einleuchtende Schilderung der emotionalen, von Hierarchie geprägten Spannungslinien zwischen den Männern.

Bedeutend sind im Heft vor allem die Gedichte Iwona Mickiewicz-Szturos, vorgestellt von Joachim Sartorius. Mit einfachen sprachlichen Mitteln, kontrollierter Metaphorik, mit genau ausgehörter Rhythmik und mit diszipliniert angeordneten Feldern verschwimmender Bedeutungen wendet sich Mickiewicz-Szturo Alltäglichkeiten zu. Manche der Gedichte sind artifizielle Variationen von Kinderreimen, die weder naiv reproduziert noch offen als Maskerade eigentlicher Grausamkeit zurückgewiesen sind. Im Gegenteil entsteht daraus, dass unmittelbares emotionales Engagement fehlt, eine Art herabgestimmetes Pathos, das sowohl Trauer als auch innere Stärke zu vermitteln vermag. Die Verletzbarkeit des lyrischen Ich wird vermittelt nicht durch explizite Klage, sondern dezenter dadurch, dass jenes Pathos überhaupt notwendig wurde. Auch die Bilderwelt der Gedichte erlaubt gerade noch eine Ahnung jener Kränkung, die das Ich erlebt haben mag. Hier scheint eine Ahnung auf, was Literatur kann, muss sie nicht vor der schlechten Gegenwart fliehen oder sich in ihr engagieren. Entstanden aus vielleicht privatestem Impuls, gewinnen sie dank der emotionalen Selbstkontrolle der Verfasserin kulturdiagnostischen Wert: als Bestandsaufnahme menschlicher Beziehungen in einer entfremdeten Welt.

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Sprache im technischen Zeitalter. Mai 2002 40. Jahrgang.
Herausgegeben von Walter Höllerer, Norbert Miller und Joachim Sartorius.
SH-Verlag, Köln 2002.
120 Seiten, 11,00 EUR.
ISSN: 00388475

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