Der doppelte Emil

Ein Erich Kästner-Hörbuch von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz

Von Julia-Charlotte BrauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia-Charlotte Brauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erich Kästner zählt neben Astrid Lindgren und Michael Ende zu den unvergesslichen Kinderbuchautoren des vergangenen Jahrhunderts. Generationen sind mit seinem Emil, dem doppelten Lottchen, dem Nichtraucher, Konrad, Herrn Ringelhuth, dem kleinen Mann und der kleinen Miss aufgewachsen. Kästner setzte sich immer für Kinder ein und schuf ihnen eigene Helden. Auch den Erwachsenen schrieb sich Kästner mit Büchern oder vielmehr mit Filmen wie "Münchhausen" und den "Drei Männern im Schnee" ins Gedächtnis. Doch als Journalist, Germanist, Lyriker und vor allem als Mensch und Kritiker seiner Zeit kennt die Öffentlichkeit Kästner heute kaum noch.

Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz beleuchten in ihrer 148-minütigen Hörbiographie das Gesamtwerk Kästners und sein Privatleben vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte und versuchen so, ein ganzheitliches Bild von Erich Kästner wiederzugeben. Die CD ist durch viele Briefe, Dokumente und Originalaufnahmen sehr abwechslungsreich. Die Autoren erzählen von Kästners Kindheit in einer engen kleinbürgerlichen Familie, von der unglücklichen Beziehung der Eltern, dem extrem engen Verhältnis von Mutter und Sohn, von den prägenden Erlebnissen als Soldat im Ersten Weltkrieg und der anschließenden Schriftstellerkarriere. Dabei sprengt das Hörbuch den Horizont von Kästners autobiographischen Schriften, die den eigentlichen Schöpfer oftmals als Kopie seines Emil erscheinen lassen.

Wie ein roter Faden ziehen sich die Themen Bildung, Literatur und Kultur durch Kästners Leben. So begann er als Offiziersanwärter kurze Geschichten und Gedichte zu verfassen und damit Demütigungen aus der Militärzeit zu verarbeiten. Später studierte er in Leipzig und Berlin Germanistik, Theaterwissenschaft und Philosophie. Während des Studiums musste Kästner sich sein Brot hart verdienen. Nebenbei schrieb er für Leipziger Zeitungen und veröffentlichte erste Gedichte und Geschichten. Nach seiner Dissertation über Lessing, einem persönlichen Bekenntnis zur Aufklärung, wurde Kästner Redakteur in den Ressorts Politik und Kultur. Die Hörbiographie betont Kästners frühes Engagement für Demokratie und Menschenrechte, das ihm die Nationalsozialisten später zum Vorwurf machen sollten. Mit ersten Gedichtbänden traf Kästner den Nerv seiner Generation und wurde damit zu einem bedeutenden Zeitzeugen.

In Berlin tauchte Kästner in das pulsierende Kulturleben ein und führte ein Leben "auf ausgespanntem Seil ohne Netz", in Cafés, Nachtbars und Theatern. Er knüpfte Kontakte zu anderen Schriftstellern und Verlegern, hatte mit Dramen erste Bühnenerfolge und verhandelte mit der UFA und ausländischen Gesellschaften über Verfilmungen seiner Romane. In dieser Zeit entstand sein Roman "Fabian", der laut eines zeitgenössischen Kritikers die "Lebensangst unter einem Gewitterhimmel" skizziert und die Endzeitstimmung im Berlin der frühen 30er Jahre, den Werteverfall und das gesellschaftliche Chaos wiederspiegelt. Kästner erkannte die Gefahr der Nationalsozialisten lange vor der Machtübernahme und reagierte mit beißend komischen und vorausschauenden Satiren über "die Dummheit als Volksbewegung", die in Auszügen auf der CD zu hören sind.

Besonders gelungen sind die Passagen des Hörbuchs über Kästners Innere Emigration im Dritten Reich. Der Schriftsteller, der wie viele an ein schnelles Ende des rechten Spuks glaubte, bemühte sich unermüdlich um Veröffentlichungsmöglichkeiten und Verfilmungen sowie um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer. Es folgte ein zermürbender Kampf, in dem Kästner zunehmend zu einem Dasein als harmloser Unterhaltungsschriftsteller und Humorist gezwungen wurde und letztlich für die Schublade schreiben musste. Zwar stellt er in "Dr. Erich Kästners lyrischer Hausapotheke" seinen Galgenhumor unter Beweis, doch schließlich sind ihm alle Möglichkeiten genommen, gegen das menschenverachtende Regime anzukämpfen. Nach Kriegsende war Kästner in München wieder als Journalist tätig und schrieb Texte für Kabarett und Theater. Er resignierte jedoch, als er die Verdrängungstendenzen der Bevölkerung und die geringen Wirkungsmöglichkeiten als Autor mehr und mehr zu spüren bekam, zog sich ins Privatleben zurück und veröffentlichte nur noch vereinzelt Kinderbücher.

Görtz und Sarkowicz machen deutlich, dass Kästner nur durch einen Zufall zum Kinderbuchautor wurde, als der er der Nachwelt heute hauptsächlich bekannt ist. Die Herausgeberin der Zeitschrift "Weltbühne", für die der Journalist schreib, war gleichzeitig Besitzerin eines Kinderbuchverlages. Sie gab eines Abends während einer Gesellschaft den entscheidenden Anstoß zu "Emil und die Detektive" (1929). Das Buch brachte Kästner sofort Lob von allen Seiten ein und begann einen phänomenalen Siegeszug, der den Autor zu weiteren Kinderbüchern animierte. Kästner postulierte in diesen von Walter Trier illustrierten Romanen Werte wie Freundschaft, Phantasie und Humor, ohne einem moralinsauren Ton zu verfallen. Trotz Kästners Schreibverbot unter dem NS-Regime wurde der "Emil" weiterhin in Deutschland verkauft - allein diese Tatsache zeugt von seinem durchschlagenden Erfolg.

Im Hörbuch von Franz Joseph Görtz und Hans Sarkowicz wird vor allem eines klar: Kästners Kinderbücher sind ebenso wie sein journalistisches und lyrisches Werk ein seismographisches Dokument seiner Zeit, das sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Erfahrungen reflektiert. Der Hörer erhält ein neues Bild von Kästners Humor im Kontext der Zeitgeschichte. Wie der Autor selbst über sich sagte, sei er eigentlich "gar kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister". Die CD bringt zum Ausdruck, dass Kästner dabei nie weltabgewandtes Philistertum, sondern wahre Herzensbildung im Sinn hatte. Sein Gesamtwerk zeigt, dass er als Humanist eben doch nicht auf völlig verlorenem Posten kämpfte, auch wenn Kästner das in den 60er und 70er Jahren selbst glaubte. Das Hörbuch von Görtz und Sarkowitz lädt dazu ein, nicht nur die eingestaubten Kinderbücher wieder aus dem Regal zu kramen. Es lebe der 35. Mai!

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Franz Josef Görtz / Hans Sarkowicz: Erich Kästner. Leben und Werk in Original-Beiträgen. 2 CDs.
Der Hörverlag, München 2001.
17,90 EUR.
ISBN-10: 3895845574
ISBN-13: 9783895845574

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