Der Tod ist allgegenwärtig

"Das Regal der letzten Atemzüge" - literarisches Vermächtnis von Aglaja Veteranyi

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor drei Jahren debütierte die in Rumänien geborene Schriftstellerin Aglaja Veteranyi bei den Klagenfurter Literaturtagen mit einem eigenwilligen und verstörenden Prosatext. Wenig später erschien ihr als Roman annonciertes, aber aus kleinen Prosafragmenten zusammengesetztes und hoch gelobtes Buch "Warum das Kind in der Polenta kocht."

Für Aglaja Veteranyi war Schreiben ein existenzielles Bedürfnis - ein Akt der Selbstfindung, der Suche nach dem Lebenssinn und der Schmerzbewältigung. Die Literatur bildete das Lebenszentrum der aus einer Bukarester Artistenfamilie stammenden Autorin. Was muss in der jungen Frau vorgegangen sein, als sie ihr Augenlicht verlor, die Mediziner keinen Rat mehr wussten und "psychosomatische Ursachen" diagnostizierten? Anfang Februar hat Aglaja Veteranyi, die seit Anfang der 80-er Jahre in der Schweiz lebte, ihrem Leben am Rande des Zürichsees ein Ende gesetzt - kurz vor ihrem 40. Geburtstag.

Ihr nun erschienenes Buch müssen wir nicht nur als konsequente Fortsetzung des Erstlings lesen, sondern auch als literarisches Vermächtnis. Aus dem Zirkuskind des literarischen Debüts ist eine junge Frau geworden, die den Tod der geliebten Tante beschreibt, zu der sie stets eine stärkere Bindung als zu ihrer Mutter hatte: "Die Mutter ist schön. Ich kann sie nicht lieben, nur anschauen."

Diese kurzen stakkatoähnlichen Sätze gehen unter die Haut. Aglaja Veteranyi beschreibt keine marginalen Details; in ihrer radikal verknappten Prosa dominieren die seelischen Befindlichkeiten. Mit großer Akribie beschreibt sie den Schwellengang ihrer Tante vom Leben zum Tod: "Das Sterben fing von unten an."

Wie schon bei ihrem Erstling liegt auch diesmal kein Roman vor, sondern eine hochartifizielle Assoziationsprosa. "Wir sind viel länger tot als lebendig, deswegen brauchen wir als Tote viel mehr Glück." Dieser im Text wieder aufgenommene Satz ist dem Buch als Leitmotiv vorangestellt. "Tote haben Hunger", Totenkuchen werden gebacken, dem Tod werden Fotos gestohlen - bei Aglaja Veteranyi ist das Leben an sich nur ein Übergangsstadium. Sie macht uns auch mit rumänischem Aberglauben vertraut, der - angesichts des Schicksals der Autorin - bei der Lektüre wirkliche Beklemmung auslöst: "Das ist ein schlechtes Zeichen, sagte Costel, das ist schlecht, sagte er, bald wird ihr einer von uns folgen. Wenn Tote ein Auge öffnen, nehmen sie jemanden mit."

Wenig später liest man von der Ich-Erzählerin, dass sie sich in Gedanken "täglich selbstmordete". Das geht tief unter die Haut und schnürt dem Leser fast die Luft ab. "Jeder Tote bringt Gott seinen letzten Atemzug. Gottes Bibliothek ist ein Regal voller Atemzüge." Und dort wird Aglaja Veteranyis mit den letzten Atemzügen vollendetes Werk seinen Platz finden.

Ratlos und betroffen legt man dieses Buch zur Seite. Vielleicht kann der russische Dichter Ossip Mandelstam (1891-1938) Interpretationshilfe gewähren. Er schrieb einmal: "Mir scheint, man darf den Tod eines Künstlers nicht von der Kette seiner schöpferischen Leistungen ausschließen, sondern muss ihn vielmehr als das letzte, das Schlußglied der Kette betrachten."

Titelbild

Aglaja Veteranyi: Das Regal der letzten Atemzüge. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2002.
140 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3421053774

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