Der Wunsch danach ein Leben zu haben

Ein leiser Emanzipationsroman von Stewe Claeson

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Linea Olausson war lange Jahre nichts anderes als eine treue, arbeitsame Pastorengattin. Nun, da ihr Mann schwer krank ist und Tag und Nacht jammert, wird ihr bewusst, dass sie im Unterschied zu ihm, käme es ans Sterben, kein Leben zu verlieren hätte, weil sie bisher noch gar nicht die Möglichkeit hatte, überhaupt ein eigenes Leben zu haben. Sie war Anhängsel und hat sich vorzuwerfen, dieses Schicksal auch noch freiwillig gewählt zu haben.

Eine Tante von Linnea ist ebenfalls totkrank. Sie lebt in Stockholm und Linnes besucht sie immer wieder. Den Tod der Tante verheimlicht Linnea zu Hause. Sie fährt weiter nach Stockholm und beginnt, sich zu konzentrieren auf sich selbst. Vielleicht kann sie ja irgendwann "Ich" sagen zu dieser ihr lächerlich erscheinenden Person. Immer wieder lacht Linnea, wenn sie ihr Gesicht im Spiegel sieht, aber es ist niemals ein frohes Lachen. Die Gespräche mit dem Mann sind grausam, voller Vorwürfe von beiden Seiten. "Die heimtückischste aller Krankheiten, die die Menschen heimsuchen, das ist die Religion, der Glaube, das Christentum. Besonders dein lutherischer, verlogener". Das ist der eine Punkt: Linnea hasst das, was für Hans Emmanuel Lebensinhalt ist. Sie hasst den lutherischen Glauben, weil sie ihn in der Verkörperung durch einen unduldsamen, büchersüchtigen, hartherzigen Menschen kennen gelernt hat. Ihr Mann steht fassungslos vor dieser Ehrlichkeit. Er wehrt sich, indem er noch grausamer und freudloser dahinlebt, vor sich hin schimpft, hadert mit seiner Krankheit.

Linnea nimmt den Kampf auf, sie beschließt, Hans Emmanuel zu verlassen, auch wenn sie nicht weiß, wohin gehen. Sie will endlich anwesend sein.

Man kennt diese leise aber umso eindringliche Dramatik aus den Texten vieler skandinavischer Autoren. Auch der Schwede Stewe Claeson beherrscht die Kunst der dramatischen Zuspitzung wunderbar. Es passieren keine wirklich großen Dinge, das Tempo der Geschichte ist langsam, der Ton äußerst leise. Die Welt verändert sich nicht, aber eine Person, eine Frau fängt an, sich ihren Platz zu erobern, eine Stelle zu finden, die ihr Anwesenheit schenkt. Nicht mit großem Getöse, Wort für Wort schält sie sich aus dem Kokon, der sie wie eine Rüstung umgeben hat. Das Drama ereignet sich in den Gesprächen mit Hans Emmanuel und vor allem in den Zwiegesprächen, die Linnea führt. So ist es vor allem ein inneres Drama, das sich abspielt. Als Linnea endlich "Ich" sagen kann, muss sie lachen und weinen und versteht es nicht. Aber sie merkt, dass sie noch viel Zeit hat. Ihr Leben hat ja gerade erst begonnen.

Titelbild

Stewe Claeson: Stimme im Meer.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Alken Bruns.
Kindler Verlag, Berlin 2002.
295 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3463403935

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