Ein geschichtlicher Entwurf

Adornos Skizzen zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehr als jede andere Kunst bedarf die Musik der Vermittlung durch einen Interpreten. Bilder und Filme lassen sich betrachten, Schrift kann der qualifizierte Leser in Bedeutung umsetzen. Eine Partitur aber - mögen wenige Spezialisten auch allein aus der Lektüre eine Klangvorstellung gewinnen - ist auf eine Aufführung hin geschrieben, eine Aufführung, die im Detail auch die genaueste Notation nicht zu determinieren vermag. Schrift, so Adorno in seinen Aufzeichnungen zu einer Theorie musikalischer Reproduktion, transportiert Bedeutungen, ohne die Zwischenstufe der sinnlichen Realisierung. Musik dagegen, mimetisch und vom Material her intentionslos, vermittelt ihren Gehalt gerade über die Umsetzung ins sinnlich Wahrnehmbare.

Ein erstes Schema für seine zunächst noch als Gemeinschaftsarbeit mit dem Geiger Rudolf Kolisch geplante Reproduktionstheorie skizzierte Adorno bereits 1927; zahlreiche Notizen aus den 40er Jahren gipfeln im Entwurf von vier Eingangskapiteln (vermutlich 1949), die er indessen nicht weiterzuführen vermochte. Trotz der Arbeitsbelastung nach seiner Rückkehr aus dem Exil entstanden zwischen 1953 und 1959 zahlreiche Aufzeichnungen. Danach, obwohl Adorno noch bis 1966 Überlegungen zu dem geplanten Buch festhielt, scheint das Interesse erlahmt zu sein. Das Projekt, für das er über fast vier Jahrzehnte Gedanken sammelte, blieb unbeendet. Was an Material vorliegt, ist nun herausgegeben und instruktiv kommentiert von Henri Lonitz als Band I/2 der auf etwa dreißig Bände konzipierten Edition der nachgelassenen Schriften Adornos erschienen.

Die Fragmente sind vielfältig, um nicht zu sagen disparat. Notizen, die Adorno wohl für spätere Bezüge auf Forschung angefertigt hat, Beurteilungen von Interpreten und Aufführungen, Überlegungen, wie bestimmte Passagen beispielhaft zu realisieren wären, wechseln mit geschichtsphilosophischen Reflexionen. So bleibt ungewiss, in welche Richtung ein Ganzes sich bewegt hätte. Zu unterscheiden sind mehrere Schichten.

Auf einer ersten Ebene finden sich konstruktive Ratschläge. Dies berührt zum einen die Dimension des Gesamtwerks: In einer "Röntgenphotographie des Werkes" sollen alle Zusammenhänge zur sinnlichen Erscheinung gebracht werden. Dass jedes Teil nur im Verhältnis zum Ganzen seine Funktion hat, ebenso wie das Ganze nur als Resultat der adäquat ausgeführten Teile wahrnehmbar wird, führt zum anderen zu genauen interpretationstechnischen Überlegungen zu einzelnen Passagen.

Dies Positive erscheint auf einer zweiten, geschichtsphilosophischen Ebene als Negatives. Musikalische Notation kennzeichnet Herrschaft, Entfremdung. Sie setzt sich nicht deshalb durch, weil zunehmende Differenzierung sie erfordert - Adorno legt dar, wie komplizierte Rhythmen durch "Primitive" auch ohne schriftliche Fixierung tradiert wurden. Notation bezeichnet die Entfremdung der Ausführenden von ihrer Musik, eine Herrschaftsform im Gedächtnis.

Auf einer weiteren, nur scheinbar einfacheren Ebene markieren die Aufzeichnungen eine polemische Stellungnahme gegen zeitgenössische Aufführungsweisen. Dabei prägt, wie er selbst hervorhebt, die je veränderte Perspektive des Autors die Wertung. Adornos Abneigung gegen den deutschen willkürlichen Romantizismus eines Furtwängler verliert auf der Flucht vor dem deutschen Faschismus an Bedeutung gegenüber der Abwehr des nüchternen Positivismus Toscaninis, wie er Adorno als Erscheinungsform der amerikanischen Kulturindustrie entgegentritt. In den 50er Jahren rückt die Kritik an der auf sinnlichen Oberflächenglanz fixierten, kulinarischen Aufführungspraxis eines Karajan in den Vordergrund.

Durchgehend wendet sich Adorno gegen einen aufführungspraktischen Historismus, der auf den genauen Nachvollzug des in der Notation Fixierten zielt. Heute Allgemeingut ist ein klügerer Historismus, dessen Vertreter wissen, dass es nicht reicht, einfach zu spielen, was da steht - für sie gilt es das Grundwissen früherer Interpreten zu rekonstruieren, weil erst dadurch der zeitgenössische Sinn der Notenschrift zu erkennen ist. Doch nicht um diesen Fortschritt geht es dem geschichtlich denkenden Adorno. Er zielt nicht auf die Rekonstruktion dessen, was früher zu hören war, sondern darauf, dass Geschichte die Werke selbst verändert: dass sie bei mittlerweile trivialisierten Tonmaterial in die Unterhaltungssphäre abrutschen können, der sie sich einst entgegenstellten, dass umgekehrt ihnen eine strukturelle und deshalb über den Gestus in der Aufführung vermittelbare Qualität erst im Verlauf der Musikgeschichte zuwächst, die allein der spätere Dirigent, der dies reflektiert, in Klang zu setzen vermag.

Geschichtlich in einem weiteren Sinn ist auch eine vierte Ebene. Ein fertiges Buch hätte implizit wohl auch eine Geschichte der Notationssysteme für Musik enthalten, für die Adorno ausführlich exzerpierte. Nur für einen kleinen Zeitabschnitt der Musikgeschichte liegen Aufführungsberichte, für einen noch kürzeren Tondokumente vor. Ältere Notenschriften erlauben über diesen Zeitraum hinaus Rückschlüsse, unsichere freilich, auf das Verhältnis des Fixierten zum tatsächlichen Klangereignis und damit auf das, was für den Interpreten mitteilenswert und was für ihn freigestellt oder selbstverständlich war. Deutlich wird im Vergleich zu den frühmittelalterlichen Neumen oder der ihnen folgenden Mensuralnotation, worin das geschichtlich Besondere der gegenwärtigen Musik besteht.

Doch wird das Neumische als das Gestisch-mimetische bei Adorno ebenso zum Grundbegriff der Theorie auch für die Gegenwart wie das Mensurale, das das entgegengesetzte Element eines zeichenhaft Symbolischen in der Notation und damit der Musikauffassung benennt. Das historisch Bestimmte wird zum überzeitlichen Begriff verschoben. So entgeht Adorno zwar der Gefahr des Historismus, gerät aber dafür in die Nähe ahistorischer Wesensbestimmungen. Für den heutigen Leser ist gerade dieser Bruch ein Vorteil: Der Blick in die Werkstatt Adornos, in der freilich schon genauer formuliert wird als in den Endfassungen vieler anderer Autoren, verweist auf Widersprüche, die später vielleicht von einer suggestiven Formulierung überdeckt worden wären. Dies erleichtert eine kritische Lektüre.

Dabei fällt auf, dass die Reproduktionstheorie an einem musikhistorischen Sonderfall entwickelt ist. Nicht nur aus Gründen der Wertung leuchtet zwar ein, dass der gesamte Sektor der Unterhaltungsmusik fehlt - hier fällt ja der Interpret mit dem Komponisten oder Arrangeur zusammen und stellt sich das Problem der adäquaten Umsetzung eines Notentextes kaum. Doch auch der Bereich der fälschlich als "Klassik" etikettierten Musik ist eingeschränkt. Fast alle Beispiele wählt Adorno aus dem Bereich der absoluten Musik deutscher und österreichischer Komponisten zwischen Bach und Schönberg; ein besonderes Gewicht liegt auf der Musik des mittleren, in der Tat klassischen Beethoven. Nur in dieser Tradition ist das Verhältnis von Teil und Ganzem derart kompositorisch konzentriert durchgebildet, wie Adorno es in einer idealen Aufführung zu hören vorschwebt. Schon in der Durchbildung der Großform weiträumiger denkende Komponisten wie Schubert oder Bruckner stehen am Rande. Der ganze Bereich der Vokalmusik, zumal die Gattung Oper, in der die musikalische Reproduktion sich mit der bühnendramatischen verschränkt, fehlt weitgehend.

Doch ist die Beschränkung stimmig. Das Problem musikalischer Formung, eines musikalischen und nicht sprachlich oder programmatisch vermittelten Gestus, einer sinnvoll gestalteten Zeit tritt an dieser historisch bedingten und eingeschränkten Auffassung von Musik idealtypisch zutage. Mit Schönberg und seinem Schüler Webern ist diese Entwicklung und damit vielleicht Musikgeschichte im emphatischen Sinn, als fortschreitende Durchbildung musikalischen Materials, überhaupt an ihr Ende gelangt - mögen auch weiterhin Werke entstehen, die mit begründeten Kriterien in gelungene und verfehlte zu unterteilen sind. An diesem Punkt mag Adornos so sehr geschichtliche Konzeption an ihre Grenze gelangt sein: Ihr Gegenstand selbst wurde als historisch bedingt erkennbar, als gegen Ende der 50er Jahre der Serialismus strenger Darmstädter Prägung, dessen Vertreter Webern fortzuführen suchten, in eine Sackgasse geriet.

Geschichtlich folgerichtig ist seitdem ein Stilpluralismus, der Musikgeschichte als Verlauf dementiert. Reproduktionsgeschichtlich neu ist mit der Einführung der Langspielplatte in den 50er Jahren und der CD in den 80er Jahren, dass Interpretationsgeschichte unmittelbar zugänglich, das Relative der gegenwärtigen Interpretation damit Allgemeingut wird. Beide Tendenzen bleiben ungenannt, zeichneten sich jedoch gerade um 1960 ab, als Adornos Aufzeichnungen weitgehend abbrachen. Vielleicht führten sie dazu, dass die Reproduktionstheorie zurücktrat, wohingegen Adorno andere Buchpläne weiter verfolgte: Anfang der 60er Jahre setzte die Popularität Mahlers ein, zu dem Adorno 1960 eine Monographie veröffentlichte; ein Buch zu Berg, der innerhalb einer streng am Materialfortschritt orientierten Musikgeschichte ebenfalls randständig ist, folgte 1968. Das geplante Beethoven-Buch, 1994 als erster Band der nachgelassenen Schriften publiziert, blieb dagegen Fragment.

Adorno deutet Mahler und Berg als Komponisten, die den Einspruch des unterliegenden Subjekts in Musik setzten. In seiner "Einleitung in die Musiksoziologie", zuerst 1962 publiziert, ist die soziologische Beobachtung der traurigen Lage der musikalischen Kultur mit unerbittlicher Kritik an den heillosen Zuständen in der kapitalistischen Gesellschaft verknüpft. Verglichen mit diesen Ansätzen erscheint die Reproduktionstheorie, mit all ihrer geschichtsphilosophisch begründeten Skepsis, als fast noch zu konstruktiv.

Titelbild

Theodor W. Adorno: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
400 Seiten, 40,80 EUR.
ISBN-10: 3518583069

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