Liebende Mutterherzen und mordende Muttermonster

Gerlinde Maurer untersucht das Verhältnis von Kindsmord und Mutterideal

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Frage, Kindsmord sollte nicht strafrechtlich verfolgt werden. Diese Auffassung vertrat zumindest der Königsberger Philosoph und Weltweise Immanuel Kant. In der "Metaphysik der Sitten" (1797) legt er seine Gründe dar. Sie sind an zwei Bedingungen geknüpft: Zum einen muss das Kind unehelich sein und zum zweiten muss die Tat von der Mutter begangen worden sein. Ein uneheliches Kind, so argumentiert Kant, sei außerhalb des Gesetzes geboren, daher habe es auch nicht für den Schutz des 'Gesetzlosen' zu sorgen und könne "seine Vernichtung" ignorieren. Als weiteren Grund für die Straffreiheit der Täterin führt er die Schande an, die der unverheirateten Mutter droht, sollte bekannt werden, dass sie ein Kind geboren hat.

Kindsmörderinnen gab es natürlich nicht nur im 18. Jahrhundert des Immanuel Kant, sondern zu allen Zeiten. In ihrem Buch "Medeas Erben" untersucht die Wiener Philosophin und Soziologin Gerlinde Mauerer den historischen Zusammenhang von Kindsmord und Mutterideal sowie das "vielschichtige Erzählungsgeflecht" um die mythische Gestalt Medea. Dabei fokussiert sie ihren Blick allerdings nicht nur auf Euripides' fiktive Kindsmörderin, sondern auch auf das in ihr verkörperte "Konstrukt Frau" mit all "ihren Konnotationen". Die Geschichte der sich wandelnden Literarisierung der Medea-Figur und ihre Rezeption bietet sich der Autorin als "Rahmenhandlung" ihres Themas - Kindsmord und Mutterideal - an, weil in dieser Figur das "Dilemma zwischen weiblichem Subjekt und der Einbindung der Frau in der Mutterschaft" deutlich wird. An die Stelle der antike Medeafigur als "begehrender Frau, die sich öffentlich zu Wort meldet und um Anerkennung kämpft", und als Frau, die auf Rache sinnt und Rache übt, da das patriarchalische Recht auf dem öffentlichen Ausschluss der Frau basiert, treten in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts "jungfräuliche Mädchen/Mägde/Gretchen" mit ihrer Not gebärenden "Unbescholtenheit" und "Reinheit". Indem von Goethe und anderen Literaten der Zeit jegliche "Widerstands- und Rachevorstellungen" in Bilder "ausgelieferter Frauen" transformiert wurden, wurden die Kindsmörderinnen nun als - in doppeltem Sinne - reine Opfer konstruiert. Damit wurden allerdings weniger "realpolitische Missstände" angeprangert als vielmehr das "ausgelieferte Mädchen" zur "ästhetisierten Stilfigur" gestaltet.

Das in Mauerers breit angelegter Analyse der Medea-Rezeption so manche wichtige Feststellung nur ausgesprochen, nicht aber weiter verfolgt werden kann, liegt auf der Hand. So weist die Autorin zwar darauf hin, dass die Geschichte der Medea-Erzählungen in der "Tradition der ausgelassenen Tochter" steht - Medea hat "entweder Söhne oder allgemein formuliert, Kinder" - , ohne dass Mauerer allerdings Gelegenheit für eine ausführlichere Interpretation dieses Befundes findet. Dafür liefert sie fast schon beiläufig eine ebenso vehemente wie überzeugende Kritik am Primat des "sogenannten Lebensrechts" des 'Ungeborenen' gegenüber dem "Selbstbestimmungsrecht von Frauen".

Mauerers Darstellung und Analyse des idealisierten Mutterbildes, das Frauen "qua zugeschriebener Mütterlichkeit" von der "öffentlichen Sphäre" ausschließt und sie als Mütter "hinter zugedachten Wesensmerkmalen im Privaten" verschwinden lässt, ist kenntnisreich und detailliert, trifft allerdings insbesondere für die deutschsprachigen Länder zu, aber nicht so sehr für den "(west-)europäischen Raum" insgesamt, wie die Autorin meint. Barbara Vinken machte erst jüngst auf die nicht unbeträchtlichen Unterschiede in der rechtlichen und sozialen Lage von Müttern in Deutschland und Frankreich aufmerksam, die mit den differierenden Mutterbildern korrespondieren. Weit davon entfernt, die sozialen Bedingungen für berufstätige Mütter etwa in Frankreich idealisieren zu wollen, sollte man doch die Unterschiede zu Deutschland nicht unter den Tisch fallen lassen. Für die deutschsprachigen Länder trifft Mauerers Analyse jedoch uneingeschränkt zu, der zufolge die realen Frauen als aufopferungsvolle Mütter den "sozialen Tod [...] in der Familie" sterben und dennoch bei dem Versuch, dem von ihnen selbst internalisierten Mutterideal "im tagtäglichen Leben" zu entsprechen, nur scheitern können.

An die Untersuchung der Medea-Figur als "Beispiel ex negativo" des mütterlichen Ideals und die Analyse der ideengeschichtlichen Genese, Entwicklung und Konstruktion einer "patriarchal zugedachten Mutterschaft" und der "Einbettung dieser Mutterfigur innerhalb der symbolischen Ordnung" schließt sich ein Abriss zur Rechts- und Sozialgeschichte der Kindstötung an, die ebensolche Wandlungen durchlief wie die Literarisierung der Kindsmörderin. Besonders Interesse verdient hier - wie so oft - das 18. Jahrhundert, für das Mauerer aufzeigt, dass die "breite Bevölkerung" erst von der seit 1756 bestehenden "Strafbarkeit und Ahndung der Kindstötung mit dem eigenen Tode" informiert werden musste. Auf Zustimmung stieß das neue Gesetz allerdings nicht überall. Kants Ablehnung einer Strafbarkeit der Kindstötung ging also in gewisser Weise mit dem common sense konform - natürlich mit der einem Philosophen gebührenden eigenen originellen Begründung. Der Königsberger Transzendentalphilosoph wird zwar von Mauerer nicht erwähnt, dafür bezieht sie sich aber ausführlich auf das von Friedrich II. in besagtem Jahr erlassene "Kindsmordedikt", mit dem der König die Zahl der Kindstötungen senken wollte, indem er die Todesstrafe für Kindsmörderinnen einführte und ledigen Müttern bei der "Erhaltung ihrer ungeborenen Kinder" Unterstützung versprach. Die freiwillige Selbstanzeige einer unehelichen Schwangerschaft sollte ansatzweise vom "Makel der Scham und Schande" befreit werden. Wie Mauerer feststellt, ließ sich die "Nachbarschaft" allerdings nicht so leicht von dem "unliebsamen Gerede" über die "Schuld und Schamlosigkeit der ledigen Mutter" abhalten, wie der Gesetzgeber es wohl wünschte. Das hatte auch schon Kant bemerkt, der mit impliziten Bezug auf das Edikt darauf hingewiesen hatte, dass die Schande der Mutter "keine Verordnung heben" kann, "wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt wird".

Die Kindstötung wurde in Deutschland - ebenso wie in den meisten anderen westeuropäischen Ländern - noch bis in die allerjüngste Vergangenheit hinein mit einem (sich im Laufe der Zeit wandelnden) eigenen Paragraphen als besonderes Delikt verfolgt. Bis vor wenigen Jahren galt im deutschen Strafgesetzbuch der § 217, der einschlägig war, wenn "eine Mutter ihr nichteheliches Kind in oder gleich nach der Geburt" getötet hatte. Erst seit 1998 wird die Straftat als allgemeines Tötungsdelikt geahndet und fällt unter die entsprechenden Paragraphen - womit für die betroffenen Frauen eine Strafverschärfung eingetreten ist.

Titelbild

Gerlinde Mauerer: Medeas Erbe. Kindsmord und Mutterideal.
Milena Verlag, Wien 2002.
274 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3852860962

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch