Der ganz vernünftige Wahn

Zeitschrift gesellschaftlicher Befunde: Das Kursbuch

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit bald 35 Jahren gehören Karl Markus Michel und das "Kursbuch" zusammen. Während Hans Magnus Enzensberger, der Begründer und erste Herausgeber der Zeitschrift (Peter Rühmkorf beschrieb ihn bereits Anfang der 70er Jahre als sympathischen, aber windigen Gesellen), längst das Handtuch des Herausgebers geworfen hat, steht Karl Markus Michel nach wie vor im Geschirr, flankiert nur von Ingrid Karsunke und Tilman Spengler. Ein bedeutender Intellektueller, der eine nach wie vor wichtige Zeitschrift betreut.

Zwei neue Hefte liegen thematisch eng beieinander, "Auftritt von rechts" (Heft 134) und "Schluß mit der Moral" (Heft 136). Vorzüglich ist der Auftaktessay von Heinz Kittsteiner in Heft 136. Kittsteiner stellt in seinem überzeugenden Durchgang durch die "transmoralische" Geschichtserfahrung der Deutschen im 20. Jahrhundert dar, weshalb es für die neue Bundesrepublik leicht und folgerichtig war, deutsche Truppen in die Kriegs- und Friedensmissionen auf dem Balkan einzubinden. Es ist uns offenbar gelungen, schreibt Kittsteiner in seinem brillanten Essay, unser Gewissen zu befähigen, willentlich Schuld aufzunehmen. In der Zeit nach 1945 galt "Reue" als "undeutsch", gelang es nicht, "Reue" als Aspekt eines kollektiven Gewissens im "Volk" zu implementieren. Es entstand, im Gegenteil, ein neuer moralischer Hochmut, so daß wir heute vor einem Paradox stehen: dem Paradox, daß seit den 80er Jahren ein neuer Moralismus zum Medium und Instrument der Kriegsführung geworden ist. Seit dieser Zeit sind Einsätze deutscher Soldaten im Rahmen von UNO-Kampfeinsätzen fast schon zur Normalität geworden. Andere Beiträge des Heftes beschäftigen sich mit Pinochet (Jörg Fisch), dem jüdischen Museum von Daniel Libeskind (Sabine Sauer), dem Fall Monica Lewinsky (Ina Hartwig) oder rechtstheoretischen Erwägungen beim Einzug der Moral ins gegenwärtige Strafrecht (Klaus Günther).

Heft 134 ist den "rechten" Ideologien und Bewegungen gewidmet. Einer der zentralen Essays ist der Beitrag von Rudolf Walther, der sich von linken "Klamaukintellektuellen" in Frankreich distanziert, die überall "Faschismus" sehen und ihm dadurch ungewollt in die Hände arbeiten. Mit dem Erfolg der populistisch-nationalistischen Rechten in Frankreich wächst die Gefahr, daß Liberale und Teile der linken Regierungskoalition rechte Parolen übernehmen. Ein Befund, der sich mühelos auf andere Staaten in Europa übertragen läßt, etwa auf Italien (Valeska von Roques) und Österreich (Martin Pollack). Andere Beiträge widmen sich den "Stiefelkindern" (Anke Westphal) und der "Massenpsychologie des Faschismus" (Jürgen Elsässer) in den neuen Bundesländern und im östlichen Brandenburg (Sighard Neckel). Gewissermaßen ein Fremdkörper, aber ein lohnender, ist der Beitrag von Reinhard Hesse zum islamischen Fundamentalismus.Denn es geht hier weniger um rechts und links. Der totalitäre Islamismus weiß linke wie rechte Ideologien im Gegenteil gut in sein Weltbild zu integrieren. Es geht Hesse mehr um "sieben Berichtigungen" unseres Bildes vom islamischen Fundamentalismus: Dieser sei weder eine im strengen Sinne religiöse Bewegung noch eine anti-moderne Strömung, sondern werde von Nutznießern der Modernisierung getragen und habe eine Säkularisierung des islamischen Diskurses bewirkt.

Titelbild

Klaus Hartung: Kursbuch Auftritt von rechts.
Rowohlt Verlag, Berlin 1998.
187 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3871341347

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Titelbild

Karl Markus Michel / Ingrid Karsunke / Tilmann Spengler (Hg.): Schluß mit der Moral.
Hans Magnus Enzensberger.
Rowohlt Verlag, Berlin 1999.
192 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3871341363

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