Jagd auf ein Phantom

Markus Schroer sucht das Individuum der Gesellschaft

Von Thomas KrummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Krumm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Individualisierung boomt. Nicht erst seit gestern und nicht nur als Lebensstil. Auch die sozialwissenschaftliche Theorie kann sich dem Sog der Individualisierung nicht entziehen. So hat sie nicht nur das Phänomen als Thema aufgegriffen, sondern ist von ihm als gesellschaftliches Phänomen selbst ergriffen. Auch die sozialwissenschaftliche Theorie (der Individualisierung) kann sich dem Zwang, ständig wählen und entscheiden zu müssen, sich ständig individualisieren zu müssen, nicht entziehen. Schroers Panoptikum legt von dieser Individualisierung soziologischer Individualisierungstheorie hinreichend Zeugnis ab.

Schroer rekonstruiert in seinem mit dem Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ausgezeichneten Werk drei große Interpretationsströme von Individualisierung in der Geschichte des sozialwissenschaftlichen Denkens. Im ersten erscheint das Individuum als durch Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesse gefährdetes, manipulierbares Rädchen im Getriebe der Gesellschaft. Schroer verhandelt als Beispiele dieser von ihm so bezeichneten negativen Individualisierung Weber, Horkheimer und Adorno sowie Foucault. In dieser Theoriefamilie herrscht das Bild des in seiner Autonomie bedrohten oder sie bereits verloren habenden Individuums vor. In einer zweiten von Schroer rekonstruierten Interpretationslinie der positiven Individualisierung wird ein Bild des Individuums als aus traditionellen Bindungen befreit und auf sich selbst gestellt gezeichnet. In dem von Durkheim, Parsons und Luhmann gezeichneten Bild des gefährlichen Individuums können sich überzogene Freisetzungsprozesse zu Anomien und zur Destabilisierung sozialer Ordnung akkumulieren. Die soziale Entbindung des Einzelnen birgt die Gefahr gesellschaftlicher Desintegration. Dieses Gefahrenszenario wird allerdings von Luhmann entschärft, da er nicht mehr auf das Paradigma der Integration durch Werte zurückgreift. Statt dessen wird ein Modell von Exklusionsindividualität entworfen, das ähnlich wie bei Durkheim und Simmel das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als ein Steigerungszusammenhang beschreibt.

Die dritte, von Simmel über Elias zu Beck verlaufende Theoriefamilie zeichnet schließlich das Bild einer ambivalenten, zwischen den beiden Extremen der Pseudoindividualisierung und Hyperindividualisierung angesiedelten Form. Am Beispiel der Simmel-Rezeption in der Soziologie illustriert Schroer anschaulich die Zeitgeist-Anfälligkeit der Disziplin. Wurde Simmel lange Zeit der Aufstieg in den Klassiker-Olymp verweigert, so entdeckt man ihn in jüngster Zeit gerade als postmodernen Theoretiker wieder. Seine Verweigerungshaltung gegenüber geschlossenen Systemen und substanziellen Grundbegriffen, die früher als Schwäche interpretiert wurde, wird im Zuge postmoderner Argumentation zu seiner Stärke. Ähnlich wie Luhmann ist Simmel eher ein Theoretiker des Dividuums als des Individuums. In der Theoriefamilie der ambivalenten Individualisierung sind quasi positiver und negativer Individualisierungsbegriff zugleich aufgehoben. Die Chancen der Freiheit werden immer wieder durch die Gefahren von Massenkultur und Standardisierung bedroht. Die Argumentationslinie mündet schließlich in die Metapher des Risiko-Individuums, dem im permanenten Prozess von Herauslösung, Stabilitätsverlust und Reintegration nicht selten ein Steckenbleiben droht.

In den synchronen Zwischenbilanzen unternimmt Schroer schließlich einen Vergleich der historisch parallel entstandenen Theorien. Die bisher jüngste Generation, Foucault, Luhmann und Beck, konvergiert trotz aller Unterschiedlichkeit im "Fluchtpunkt des Selbst" also in der Betonung von Selbstorganisation, Selbstreferenz, Selbstsorge oder Selbsterfindung.

Das schillernde Spektrum von synchronen und diachronen Theorievergleichen macht zugleich die Deutungsoffenheit des Phänomens deutlich. Seit wann spricht man überhaupt vom Individuum? Schroer führt vor, dass in der Geschichte soziologischer Theoriebildung Verschiedenstes darunter verstanden wurde und auch er keinen Anspruch auf abschließende Klärung erhebt. Das Individuum der Gesellschaft wird auch weiterhin die soziologische Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Insofern lässt sich Schroers Buch auch als Beitrag zur Ideengeschichte der Irritation der Gesellschaft durch "Individuen", also letztlich durch sich selbst, verstehen. Die paradoxe Begrifflichkeit der Individualisierung macht deutlich, dass die "Irritationsquellen" der Gesellschaft nicht mehr homogen als Klassen oder Schichten identifizierbar sind.

Wenn Schroer gegen Ende der Untersuchung die Frage, was nach dem Individualisierungsschub kommt mit dem Hinweis auf Individualisierung beantwortet, dann deutet er damit, ganz im Stile Becks, eine zweite, reflexive Individualisierung an. Indem er schließlich bei Beck landet, entgeht er knapp der Beschreibung des postmodernen Lebensstils, nämlich sich nicht festlegen zu wollen, sich alle (Theorie-)Optionen offen halten zu wollen. Gleichwohl erinnert der Titel eher an das Subsumtionsschema der Luhmannschen Systemmonographien. Am Ende der anregenden Lektüre fragt man sich: Soll das ganze Theoriespektakel die Aufmerksamkeit nur auf die Notwendigkeit einer reflexiven Individualisierungstheorie lenken? Oder soll die Becksche Individualisierungsthese historisch-genetisch unterfüttert und zugleich abgegrenzt werden? Aber das wird ja bereits in der Einleitung verneint. Die These der drei unterscheidbaren Theoriefamilien nimmt sich angesichts des Theoriespektakels fast bescheiden aus.

Die klare, unverstiegene und schnörkellose Sprache erleichtert die Lektüre erheblich und empfiehlt das Buch zugleich als synoptischen Überblick soziologischer Theoriebildung. Gelegentliche Redundanzen in den Zwischenbetrachtungen erleichtern lediglich eine nichtlineare Lesart.

Titelbild

Markus Schroer: Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
502 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-10: 3518291092

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