Nichts Neues von der Unmenschlichkeit

Maxim Biller macht aus authentischem Stoff sein erstes Drama "Kühltransport"

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst vor einigen Wochen ereignete sich wieder ein grauenhaftes Szenario: im irischen Hafen Waterford wurden in einem Container Flüchtlinge gefunden, die bei dem Versuch illegal einzureisen qualvoll erstickten. Schon vor Jahren ging eine Schreckensmeldung durch die internationalen Medien, als 58 illegale Flüchtlinge aus China in einem Lkw-Container auf gleiche Weise ums Leben kamen. Sie waren, nach dreimonatiger Odyssee durch Rußland und Europa, bereits an ihrem Zielort Dover angekommen, als die Luft ausging.

Maxim Biller, der als Kolumnist und scharfzüngiger Kulturkritiker in den 80er Jahren bekannt wurde, hat, nachdem er 2000 seinen ersten Roman "Die Tochter" vorgelegt hatte, im letzten Jahr sein erstes dramatisches Werk für die Bühne verfasst, das das Schicksal eben jener chinesischen Flüchtlinge aufgreift. Am 12. Oktober 2002 findet in Mainz die Uraufführung statt.

Vier junge Chinesen, in der Hoffnung auf ein besseres, freieres Leben in den Container gestiegen, sind die Protagonisten des Dramas. Ihre Motive sind so unterschiedlich wie ihre Charaktere und persönlichen Geschichten: der schwule, introvertierte Künstler Khai, vom Regime verfolgt und gefoltert, will sein nacktes Leben retten. Der aggressive Kriminelle Wang läuft ebenfalls Gefahr in chinesischen Kerkern zu verschwinden und will über Beziehungen in der chinesische Schleppermafia (Shetou: die Schlangenköpfe) in England Fuß fassen. Der schwache Lu will seinen Bruder bei den Schlangenköpfen auslösen, und Cheng, der Medizinstudent, sehnt sich einfach nach einer freien Zukunft.

Die Szenen des Stücks bilden eine episodenhafte Collage, in der die letzten Stunden der Flüchtlinge dargestellt sind. Dazwischen werden in zahlreichen Rückblenden und Traumsequenzen die Geschichten der vier jungen Männer ausgeleuchtet. In Ausblicken auf das Geschehen nach der Entdeckung ihrer Leichen, zeigen sich die unbeholfenen Reaktionen der englischen Justiz und Politik (stellvertretend für die der westlichen Gesellschaft) und die vergeblichen Versuche eines chinesischen Anwalts in London, Aufklärung gegen die Schleppermafia und ihre Verbrechen zu betreiben.

Billers Anliegen mit diesem Stück wird sehr deutlich: die Opfer und ihre Geschichten aus der Anonymität der Statistik zu befreien. 20, 30, 40 Chinesen - das hat keine emotionale Kraft; aber ein Mensch, der lebt und spricht, von dessen Wünschen und Ängsten man weiß, den kann man nicht verenden sehen, ohne Mitgefühl und Empörung zu empfinden. "Wir tun so, als wären sie keine Menschen" sagte der britische Innenminister in einem sentimentalen Moment - ein aufrechter und ehrenwerter Satz, aber, so fragt man sich, an wen richtet sich Biller hier? Zumindest unter den potentiellen Lesern und Zuschauern von "Kühltransport" dürften Appelle dieser Art offene Türen einrennen. Das Bewusstsein vom Leid in verarmten, totalitären Staaten und von der abstumpfenden Langzeitwirkung unserer Rezeption über die Massenmedien, mithin das Bewusstsein unserer Unfähigkeit, diesem Leid angemessen zu begegnen, ist bildungsbürgerliches Allgemeingut. Das Stück ist kaum in der Lage, dem etwas hinzuzufügen oder eine neue Perspektive abzugewinnen.

Dabei sind solche Inhalte ja nicht per se unbrauchbar, im Gegenteil. Oliver Stone hat mit seinem Film "Natural Born Killers" (1994) ein Monument der Gesellschaftskritik geschaffen, das die Perversion der Medien und ihrer Konsumenten im Umgang mit menschlichem Leid und Gewalt schonungslos und fast schon physisch schmerzhaft vor Augen führt. Das gelingt durch eine stilistisch vollendete Form, die über Wiedererkennungseffekte von Reportagen, Nachrichtensendungen, Videoclips und Comedy-Shows die kalte Angst auslöst, im Wahnsinn der medialen Unwirklichkeit unterzugehen. Dagegen wirkt "Kühltransport", fast ein Jahrzehnt danach, wie ein altbackener Nachzügler. Man hat eben schon vorher gewusst, dass die Männer mehr als eine Nummer in den Akten des Gerichtsmediziners sind, dass ihre Verzweiflung in China unerträglich war, dass die Politiker nur reden und die Mafiosi damit ihr Geld verdienen.

Die trashigen Dialoge, die seit Tarantino zum festen popkulturellen Inventar gehören (was ist eine "echte" und was eine "richtige Nutte", sind V-Ausschnitte cool oder nicht, und wer fickt hier eigentlich wen) verstärken noch den Eindruck, das alles schon gekannt zu haben.

Die Vorhersehbarkeit betrifft aber auch die Entwicklung der Figuren, die ihre Typisierung nicht überwinden, noch in nennenswerte Beziehungen zueinander treten. Biller entwirft keinen dramatischen Konflikt, sondern illustriert die Handlung mit szenischen Momentaufnahmen, wobei diese Illustrationen selbst oft gelungen sind und beweisen, daß Biller kein schlechter Handwerker ist. Die ernsthaften Dialoge besitzen überzeugenden Realismus und die Traummonologe sind bisweilen sehr bewegend. Doch es bleiben Glanzlichter in einer Gesamtkonzeption mit grundlegenden Schwächen.

Der Container wird geöffnet, Wang als einziger gerettet; so kann sich die unmenschliche Spirale weiter drehen: er tritt den Shetou bei und wird wahrscheinlich den Menschenschmuggel mitorganisieren. Das letzte Bild ist ein Lastwagencontainer - diesmal von außen - am Zoll von Dover. Man hört die gedämpften Schläge und Schreie der Eingeschlossenen. Vielleicht sind es die vier, die wir kennen, vielleicht ist es auch schon die nächste Fuhre. Nichts ändert sich, der grausame Tod von fünfzig Menschen bleibt ohne jede Auswirkung. Das ist Billers bittere, berechtigte Botschaft, die man schon kannte und nicht neu erlebt hat.

Titelbild

Maxim Biller: Kühltransport. Ein Drama.
dtv Verlag, München 2001.
134 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3423129204

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch