Ästhetik im Zeichen der Immanenz

Stefan Heyer über Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan Heyer hat unter dem Titel "Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept. Ein Wegweiser zu Tausend Plateaus" die neueste Studie zum Werk der französischen Differenzphilosophen und Kapitalismuskritiker vorgelegt. Die als Dissertation an der Universität Essen eingereichte Arbeit will die Ästhetik von Deleuze und Guattari aus ihrem großen gemeinsam geschriebenen Buch "Tausend Plateaus" (Paris 1980) entwickeln. Dieses, dem Titel der Arbeit zu entnehmende, Vorhaben ist generell begrüßenswert. Zum einen gibt es bislang im deutschsprachigen Raum fast überhaupt keinen Versuch, die Ästhetik der beiden Autoren darzustellen. Eine Ausnahme bildet das ebenfalls im Passagen Verlag veröffentlichte Buch von Michaela Ott. Zum anderen ist "Tausend Plateaus" ein schwieriges und facettenreiches Buch, für das ein ,Wegweiser' nur wünschenswert sein kann. Die Absicht, das Kunstkonzept von Guattari und Deleuze aus diesem Buch herauszupräparieren, verspricht ein spannendes und unvorhersehbares Abenteuer zu werden.

Wer anfängt, mit diesen und anderen Gedanken das Buch von Stefan Heyer aufzuschlagen, der ist zunächst irritiert. Man erfährt, dass Deleuze und Guattari zu den sogenannten Konstruktivisten zählen und sich der philosophischen Methode der Kartographie bedienen. Im Anschluss daran wird dem Leser ein assoziativer Ausflug in die Kunst- und Kulturgeschichte der Kartographie zugemutet: von El Grecos "Ansicht und Plan von Toledo" bis zu Vermeers "Allegorie der Malerei", über das Go-Spiel bis zu den ,Reisen' der Beatnicks. Der Autor scheint sagen zu wollen, dass die Kunst kartographisch ist und dass sie diese ihre ,Wesensart' auch selbst - in ihren progressivsten Augenblicken - thematisiert. An diesem Punkt fühlt man sich schon leicht überfordert, ein Gefühl, das noch zunimmt, wenn der Autor die Neuartigkeit des philosophischen Ansatzes von Deleuze und Guattari in ihrer Übernahme oder Fortsetzung der Tradition des kartographischen Künstler-Denkens zu erkennen glaubt. Bereits das ,präguattarianische' empiristische Theoretisieren von Deleuze sei als eine Vorform der späteren "Geophilosophie" anzusehen, die mit dem Begriff des "Rhizom" in der Mitte der 70er Jahre auf den Punkt gebracht werde.

Wir lesen und nehmen es hin, dass die experimentelle Phase des Philosophierens von Deleuze und Guattari in ihrem Alterswerk "Was ist Philosophie?" (1991) zu einem runden Abschluss gekommen ist. Das Struktur-, Maschinen-, Rhizom- und Gefügedenken wird laut Heyer im Begriff des Plans der Immanenz gefügig gemacht. Warum aber dieses Hin- und Herlavieren in der philosophischen Begrifflichkeit, warum Aneinanderreihungen von Namen und kleinen Stückchen kandierten Wissens, warum Herstellung von Familienähnlichkeiten (z. B. im Abstand weniger Sätze: "Deleuze greift hier auf Fichte zurück" und "vergleichbar mit der Theorie von Luhmann" und "von Foerster, Monod und Jantsch seien hierfür als Beispiel genannt")? Den Rückgriff auf das ,Philosophiekonzept' rechtfertigt Heyer, indem er von der These ausgeht, dass Deleuze und Guattari "ihr Kunstkonzept aus dem Philosophiekonzept heraus entwickelt haben". Diese These wird mit der Ankündigung verknüpft, in den folgenden Kapiteln weniger auf das Kunstkonzept (wie es in "Tausend Plateaus" impliziert sein mag) als vielmehr auf dasjenige der Philosophie näher einzugehen.

Im folgenden Abschnitt wird die Leserin deshalb zunächst mit der - heute angeblich selbstverständlich geltenden - Methode der Intuition bekannt gemacht, die Deleuze und Guattari von Bergson übernehmen. An diese lebensphilosophische Ader schließt sodann die Nomadologie an, die ihre Begründung im antiken Atomismus findet, wie Heyer "mit Rückgriff auf Serres" versichert. Wir erfahren, dass "die Nomadologie das Projekt einer transzendental-empirischen Ästhetik ist". Wenn die Leserin an dieser Stelle noch nicht richtig versteht, was gemeint ist, so verweist Heyer auf der nächsten Seite auf die Ethik Spinozas, von der Deleuze und Guattari "am meisten profitiert" haben. Denn auch Spinoza hat eine "radikale Lebensphilosophie entworfen". Wer wissen will, worin dieser Profit besteht, den verweist Heyer auf Nietzsche (den er offensichtlich auch gelesen hat - toll!), denn "mit Nietzsche haben sich Deleuze & Guattari der Philosophie der Kreativität verschrieben." Kreativität: das hat auch mit Ethik, Leben und Kunst zu tun - soviel ist sicher. Eins weist aufs andere, ausgeführt wird dagegen nichts.

Im dritten Kapitel setzt Heyer seine Überlegungen zur Philosophie von Deleuze und Guattari fort, indem er schrittweise die ersten vier Abschnitte aus "Was ist Philosophie?" rekonstruiert. Vorab ordnet er diese in die Schule des radikalen Konstruktivismus nach dem Vorbild der Biologen Maturana und Varela ein, das heißt in eine "empirische Kognitionstheorie, welche jede Form der Erkenntnis als eine Konstruktion des Beobachters begreift." Die Subjektivität des Beobachters wird dabei von Heyer nicht weiter problematisiert, was sich auch im Zusammenhang seiner Inanspruchnahme der Kantischen Ästhetik (Geschmack und Genie etc.) nachteilig bemerkbar macht. Der erste Abschnitt beschäftigt sich knapp mit der von Deleuze und Guattari entwickelten Begriffstheorie, bezieht aber diese nur mittels Analogie auf den Bereich der Kunst. Der zweite Abschnitt behandelt die Konzeption der Immanenz, die als Ebene von einem philosophierenden Subjekt und Beobachter zu entwerfen ist. "Der Ebenen sind viele, und jede Ebene ist subjektiv." Auch die Kunst hat solche Ebenen, auf deren Grundlage die Empfindungen komponiert werden müssen. Drittens geht es um den Status der Fürsprecher, Begriffspersonen oder ästhetischen Figuren, die als Subjektivitäten im Denken oder Empfinden hervorgebracht werden. Als exemplarische Begriffsperson benennt Heyer den Idioten oder Schizophrenen. Es ist also kaum verwunderlich, wenn er erklärt, dass Deleuze und Guattari die "Literatur des radikalen Wahnsinns" geliebt haben. Zum Abschluss dieses Kapitels geht es um die Geophilosophie, was Heyer aus irgendeinem Grund veranlasst, die Phänomenologie von Merleau-Ponty als Vorform des Differenz-Denkens von Deleuze, aber auch von anderen modernen-postmodernen AutorInnen zu deklarieren. Denn Deleuze und Guattari stehen nicht allein: "von Freud über Heidegger hin zu Sartre und Adorno und insbesondere die Denker nach der Moderne, Derrida und Foucault" haben allesamt die treibende Kraft der Kunst für "ein neues Denken" entdeckt. Platz für Differenzen ist da nicht mehr vorhanden, weder auf der Seite der Philosophen, noch auf der Seite der Künstler, die in Hundertschaften antreten müssen.

Auf welches Kunstkonzept läuft nun die Heyersche Darbietung hinaus? Kurz gesagt, auf eine Internet- oder Medienästhetik, die sich am Modell des Hypertext orientiert. "Hypertext ist ein Medium der nicht-linearen Organisation von Informationseinheiten." Er besitzt sozusagen eine rhizomatische, wild wuchernde Struktur in einem medialen oder virtuellen Netz unbegrenzten Ausmaßes. "Wenn, so Deleuze & Guattari, Bücher als Maschinen funktionieren sollen, ein Buch nur durch das ihm Äußerliche existiert, dann entwickeln Deleuze & Guattari damit eine Ästhetik, die ihre volle Bedeutung erst im Internet findet." Das Buch verschwindet zugunsten der Bildschirmoberfläche, die Zahl ersetzt den Buchstaben. "Tausend Plateaus" verkörpert das Ende der linearen und systematischen Vernunft, indem es Textstücke zusammenflickt, die kein Ganzes mehr bilden. Allerdings, was D+G aus der Perspektive Heyers zum Vorwurf gemacht werden muss: sie haben ihre Thesen noch in Buchform präsentiert, obwohl diese nur auf einem digitalen Träger widerspruchslos zu übermitteln gewesen wären. Sie wären nicht allein inkonsequent gewesen.

"Tausend Plateaus" firmiert also hier als ästhetisches Modell und Beispiel für ein Anti-System und nicht als Instanz für eine komplexe philosophische Kunsttheorie, die zur Darstellung, Kritik oder zur Anwendung gebracht wird. Heyer liefert keinen Wegweiser, sondern betrachtet "Tausend Plateaus" nur aus der Distanz, macht Anspielungen ohne ein ästhetisches Thema wirklich zu entwickeln. Stattdessen orientiert er sich in erster Linie an dem Kunstkapitel aus "Was ist Philosophie?", das ist das siebte Kapitel über Perzept, Affekt und Begriff. Unter dem Stichwort 'Ästhetik' beschäftigt sich Heyer (im vierten Teil seines Buches) mit der von Deleuze und Guattari dort (1991) vorgelegten Konzeption der Kunst als Empfindungsblock oder Monument. Ihre Ausrichtung auf Affekte und Perzepte, die nicht vorab begrifflich zugeschnitten werden, würdigt Heyer zurecht als Desiderat einer philosophischen Ästhetik, die allzu lange am Schönen oder Erhabenen als einer Idee des Wahren interessiert war. Allerdings entfaltet er den wichtigen Aspekt der ästhetischen Dauer nicht wirklich, den Deleuze und Guattari ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen. Er interpretiert die Dauer nicht als "virtuelle Zeit-Mannigfaltigkeit", sondern fällt auf die klassisch-monumentalen Konnotationen herein, die D+G ironisch bemühen. Was ist es denn, was sich (im Kunstwerk) erhält? Es handelt sich darum, die unendlichen Bewegungen auf dem Plan der Immanenz konsistent zu machen, in ihnen ein Ereignis zu bewahren, eine Rückkopplungsfigur zu erzeugen, die mit neuartigen Subjektivierungseffekten (Wahrnehmungen, Empfindungen und Phantasien, die sich dem Klischee oder der Meinung entziehen) einhergeht. Keineswegs installieren D+G "eine Hierarchisierung der Kunst", die medienästhetisch aufzuheben wäre. Nur deshalb kann Heyer beispielsweise behaupten, dass "Unterhaltungskunst in Deleuzes & Guattaris Kanon keinen bzw. nur einen untergeordneten Platz [einnimmt], da sie viel mehr auf rasche Konsumierbarkeit denn auf Dauer angelegt ist."

Überhaupt ist zu bemerken, dass die Konzentration auf das Kunstkapitel in "Was ist Philosophie?" nicht mit der Ausrichtung auf den Hypertext und den Internet-Roman zusammenstimmt. Wir erhalten nur kursorische Ausführungen über das Kunst-Konzept von Deleuze und Guattari im Kontext der gesamten abendländischen Kunst- und Philosophiegeschichte - und zwar nicht im dezidierten Bezug auf "Tausend Plateaus" (was eine eingehende Textanalyse erforderlich gemacht hätte) - sondern auf der (kaum auseinandergelegten) Theoriegrundlage von "Was ist Philosophie?". Das von Heyer praktizierte Hin- und Herspringen von einem Begriff, Thema oder Namen zum anderen, offenbart das medienästhetische Konzept konjunktiver Verkettungen, das im Namen von Deleuze und Guattari vorgetragen wird. Allerdings haben Deleuze und Guattari ein solches Kunst-Konzept niemals vertreten: stets ging es ihnen darum, den Aneinanderreihungen von bloßen Meinungen zu entkommen. Die von Heyer vorgeschlagene Ästhetik entlarvt sich selbst als untauglich. Das zeigt sich zuletzt auch daran, dass ohne jede Bescheidenheit auf den Genie-Begriff von anno dazumal zurückgegriffen wird: "Ohne Genie keine Kunst." "Künstler als Offenbarer", als "Außenseiter, Verrückte, Grenzgänger"... "Kunst dient zur Schaffung des Unsterblichen." "Das Chaos ist das Thema von Kunst." "Das Kunstwerk wird mit dem Leben bezahlt." Wer möchte am Ende mit Stefan Heyer in das postmoderne Hurra über die Gewalt der Trugbilder einstimmen? (Er schreibt z. B.: "Die Differenz hat gewonnen, das Chaos herrscht über die Einheit, dem Einen, die Anarchie hat die Repräsentation besiegt.") Haben wir denn die Probleme beseitigt, wenn wir in das Zeitalter der "Informatik der Herrschaft" (Haraway) eintreten?

Titelbild

Stefan Heyer: Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept. Ein Wegweiser durch Tausend Plateaus.
Passagen Verlag, Wien 2001.
200 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3851654943

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch