Und führe uns nicht in Versuchung

Ein neues Meisterwerk der italienischen Autorin Margaret Mazzantini: "Geh nicht fort"

Von Pia KarstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia Karst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich könnte es ein ganz gewöhnliches Gespräch sein, das ein Vater mit seiner Tochter führt. Doch beide trennt nicht nur ein Raum, sondern auch ein schreckliches Geheimnis. Nach einem schweren Verkehrsunfall kämpfen Ärzte um das Leben der 15-jährigen Angela während ihr Vater vor dem OP wartet. In diesen quälend langen Stunden voll Hoffnung und Verzweiflung erzählt Timoteo Angela eine Geschichte - seine Geschichte. Stück für Stück beginnt er seine Vergangenheit aufzurollen. Und zum ersten Mal enthüllt er die Wahrheit: Lange bevor Angela geboren wird, begegnet er der unscheinbaren Italia. Er vergewaltig die junge Frau, beginnt mit ihr eine seltsam innige Beziehung, deren Fundament nur scheinbar sexuelles Interesse ist. Und Timoteo gelingt es, diese Beziehung vor seiner Frau, Angelas Mutter, geheim zu halten. Doch dieses Doppelleben wird zur Zerreißprobe, als er erfährt, dass er Vater wird.

In Form einer Parallelmontage wechseln sich Timoteos Erinnerungen und die Gegenwartshandlung ab: seine Erlebnisse mit Italia werden überblendet von dem Überlebenskampf seiner Tochter. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen in einem dramatischen Höhepunkt. Denn Timoteo hat diese Situation im Krankenhaus schon einmal erlebt: Kurz nach Angelas Geburt droht Italia an den Folgen einer Abtreibung zu sterben. In Timoteos Gedanken führen die beiden jungen Frauen zur gleichen Zeit ihren Todeskampf, obwohl der eine bereits 15 Jahre zurückliegt. Doch der Schiedsrichter ist nicht der Tod - als die Vergangenheit die Gegenwart einholt, muss Timoteo sich zwischen seiner Tochter und Italia entscheiden.

Margaret Mazzantini erzählt von einem Mann, der seinen Träumen und Zielen nachgeht, immer wieder stolpert und sich verirrt. Authentisch und beeindruckend sind die Einblicke in die Gefühle und die Gedankenwelt eines Mannes, der seinen inneren Zwiespalt nicht mehr bewältigen kann. Der feinfühlige Blick für Details, der Mut und die Kunst, die Dinge beim Namen zu nennen, und nicht zuletzt sprachlicher Einfallsreichtum addieren sich zu einer einzigartigen Erzählung.

Titelbild

Margaret Mazzantini: Geh nicht fort. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Petra Kaiser.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2002.
320 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 362700096X

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