Hurra, es ist ein Junge!

Frauen und Geschlechterinszenierung in den Naturwissenschaften

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Hurra, es ist ein Junge!", jubelten in den vierziger Jahren die mit der Entwicklung der Atombombe befassten Wissenschaftler, wenn eine Zündung gelang. Missglückte Versuche wurden hingegen als Mädchen bezeichnet. Dieses Beispiel misogyner Metaphorik findet sich in Heike Wiesners Untersuchung zur Inszenierung der Geschlechter in den Naturwissenschaften. Die Arbeit der an der Bremer Universität im Fachbereich Informatik tätigen Sozialwissenschaftlerin stellt den Versuch dar, die aktuellen postmodernen Technoscience-Ansätze nicht nur im Rahmen aktueller Science and Technological Studies (STS) zu analysieren, sondern sie auch "im Gesamtkonzept Feministischer Naturwissenschaftsforschung neu zu verorten". Hierzu orientiert sie sich an dem von Evelyn Fox Keller vorgeschlagenen erkenntnisstiftenden Ordnungsschema: "women in science", "science of gender", "gender in science". Ihre untersuchungsleitende Hypothese bezieht sie hingegen von Donna Haraway, der zufolge Subjekt und Objekt das "Ergebnis diskursiver Konstitutionen" sind.

Zu "women in science", dem ersten der drei Themenkomplexe, wartet die Autorin nicht nur mit Statistiken über den Anteil von Frauen in den Naturwissenschaften und der Bedeutung schulischer Diskriminierung von Schülerinnen gegenüber Schülern für die Entwicklung naturwissenschaftlichen Interesses auf, sondern auch mit typische Karrieren von Naturwissenschaftlerinnen, beziehungsweise deren Obstruktion durch patriarchalische Strukturen und männliche Kollegen. So hatte etwa die russische Ärztin Maria Manasseina 1872 die zellfreie Gärung experimentell bewiesen, den Nobelpreis für diese Entdeckung erhielt 35 Jahre später allerdings Eduard Buchner, der Manasseinas Versuche wider besseres Wissen als gescheitert dargestellt und sich somit die "Priorität auf ihre Entdeckung" gesichert hatte.

Unter den Stichworten "science of gender" und "gender in science" behandelt Wiesner den "androzentrischen Gehalt" geschlechtsspezifischer Themenwahl, die oft schon im Forschungsentwurf "androzentrische Tendenzen" aufweist, und spürt "Geschlechterideologien in naturwissenschaftlichem Wissen" auf. Zwar lässt sich die von Alltagsbewusstsein und Sozialwissenschaften übereinstimmend angenommene Zweigeschlechtlichkeit in biologischen und medizinischen Untersuchungen nicht bestätigen. Vielmehr werden die Prädikate "eindeutig weiblich" und "eindeutig männlich" hier nur in wenigen Fällen vergeben, nämlich dann, wenn alle sechs zur Festlegung eines Geschlechtes untersuchten "Dimensionen" (darunter das genetische, das hormonelle, das zerebrale Geschlecht und das Köpergeschlecht) das gleiche Ergebnis zeitigen. Zu solchen Ergebnissen gelangt man nicht nur höchst selten, es ergeben sich zudem innerhalb der einzelnen "Dimensionen" zahlreiche "Überlappungen und kontinuierliche Übergänge". Darüber hinaus ändern sich die Werte einzelner Untersuchungen im Laufe des Lebens eines Menschen. Doch ungeachtet all dessen tragen die Naturwissenschaften die falsche - gesellschaftlich und historisch erzeugte - Vorabannahme von Zweigeschlechtlichkeit mit - auch die Biologie, wie nicht nur Linnés Botanik zeigt.

Wiesners Ausführungen zu "Women in science", "science of gender" und "gender in science" sind ebenso informativ wie interessant. Der eigentliche Clou ihres Versuchs, die "dynamische Analysekategorie" Gender in den Diskurs der Wissenschaftsforschung einzuführen, besteht jedoch in der instruktiven Entwicklung eines über die drei Themenkomplexe hinausgehenden Konzeptes, das die Trias zu einem Vierten verbindet, indem die Autorin das "Leitmotiv" des feministischen Wissenschaftsdiskurses ("the deconstruction of gender") und die unmittelbar auf die Technoscience-Diskussion bezogenen Arbeiten der Wissenschaftsforschung ("the construction of science") zu dem vielversprechenden Konzept der "de/construction of gender in science" weiterentwickelt.

Ihr "fast postmoderner" Ansatz, der eine "neue Dimension feministischer Naturwissenschaft" eröffnet, verknüpft eine akteursspezifische Interpretation von Latours Theorem wissenschaftlicher Netzwerke mit Donna Haraways "'sozio-technischen' Cyborg- und Hybridkonzeptionen", wobei das "akteurszentrierte Festhalten" an der Analysekategorie gender eine Antwort auf die Frage gestattet, "welche Verbindungen sich zwischen Wissenschafts- und Geschlechterforschung auffinden bzw. herstellen lassen".

Wiesners Ansatz beinhaltet sowohl eine theoretische, als auch eine "epistemische Erweiterung und Reformulierung" des bisher vorgegebenen von den Science and Technological studies vorgegebenen Rahmens und schafft so erstmals eine "Plattform" für den Dialog zwischen Wissenschafts- und Geschlechterforschung. Die Autorin versteht ihr Konzept als "analytischen Knotenpunkt" zwischen Wissenschafts- und Geschlechterforschung, da es nicht nur die Möglichkeit eröffnet, "blinde Flecken" der 'regulären' Wissenschaftsforschung "aufzuspüren", sondern auch "feministische Technoscience-Ansätze mit postmodernen Aspekten und radikalen agency-Konzeptionen - reflexiv - zu verknüpfen".

Nachdem sie ihr Konzept anhand von Bärbel Mauss' Aufsatz "Judith Butler und die Humangenetik" veranschaulicht hat, wendet sie es im Rahmen einer von ihr selbst durchgeführten ExpertInnen-Befragung an, mit deren Ergebnissen sie das Buch beschließt. Unter der forschungsleitenden Hypothese, dass sich die Geschlechtszugehörigkeit auf den Karriereverlauf ihrer TrägerInnen und deren inhaltliche Positionierung im Forschungsfeld der Science and Technological studies auswirkt, wurden 15 "etablierte WissenschaftlerInnen" aus den Disziplinen Chemie, Mathematik und Physik sowie aus den Gender Studies, in Einzelgesprächen nach kontextabhängigen Erfahrungen bezüglich des Geschlechtes im STS-Forschungsfeld, nach Überschneidungen zwischen Wissenschafts- und Geschlechterforschung und nach dem Stellenwert der Technoscience- und Postmoderne-Debatte befragt. Mit weiteren 25 Wissenschaftlerinnen (Naturwissenschaftlerinnen, Informatikerinnen und Ingenieurinnen) wurde eine Gesprächsrunde durchgeführt. Einige der Expertinnen betonten die Notwendigkeit, feministische Netzwerke innerhalb der Naturwissenschaften zu etablieren beziehungsweise auszubauen.

Teil eines solchen bereits bestehenden Netzwerkes bilden die internationalen "Kongresse von Frauen in Naturwissenschaft und Technik", deren 7. kürzlich vom Wiener Verein FLuMiNuT (Frauen, Lesben und Mädchen in Naturwissenschaft und Technik) veranstaltet wurde. 2001 hatten sich in der Österreichischen Hauptstadt mehr als 400 Teilnehmerinnen aus sieben Ländern versammelt, unter ihnen etwa 160 Referentinnen. Ein beträchtlicher Teil der Vortragenden kommen allerdings nicht aus den 'harten' Naturwissenschaften, sondern aus Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, Philosophie und Politikwissenschaft oder sind als Architektinnen, Landschafts- und Stadtplanerinnen tätig. Dem weitgefächerten Tätigkeitsfeld der Teilnehmerinnen entsprach das breite Spektrum der behandelten Themen, die von Wissenschaftsforschung und -geschichte über Gen-, Bio- und Informationstechnologien, Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung bis hin zu Fragen der Lehr- und Forschungsorganisation sowie der Berufsentwicklung reichten. Zudem wurden verschiedene Aktionen und Projekte etwa zu "Frauen in der Biologie", zu einem "Philosophischen Café" und zu "urbanen Frauen" vorgestellt. Die 'harten' Naturwissenschaften Physik und Chemie blieben hingegen weitgehend ausgeblendet.

Verständlicherweise konnten in dem nunmehr von FLuMiNuT herausgegebenen Tagungsband "Wissen_schaf(f)t Widerstand" nicht alle Referate vollständig publiziert werden. Da die Herausgeberinnen dennoch allen Referentinnen zu Wort kommen lassen wollten, wurden von den nicht vollständig publizierten Vorträgen wenigstens Abstracts aufgenommen. In solchen kurzen Texten lässt sich kaum eine argumentative Struktur entwickeln. Dennoch werden, wie auch in den ausformulierten Vorträgen beträchtliche Niveauunterschiede deutlich. Während eine Reihe von Wissenschaftlerinnen interessante und informative Beiträge liefert, geraten andere Texte zu bloßen, gelegentlich wenig überzeugenden Statements, die nicht nur terminologisch unscharf sind. Dennoch handelt es sich insgesamt um einen ebenso aufschlussreichen wie anregenden Band.

Titelbild

Heike Wiesner: Die Inszenierung der Geschlechter in den Naturwissenschaften. Wissenschafts- und Genderforschung im Dialog.
Campus Verlag, Farnkfurt a. M. 2002.
336 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3593370441

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Verein FLuMiNuT (Hg.): Wissen_schaf(f)t Widerstand. Dokumentation des 27. Kongresses von Frauen in Naturwissenschaft und Technik.
Herausgegeben von FLuMiNuT - Frauen, Lesben und Mädchen in Naturwissenschaft und Technik.
Milena Verlag, Wien 2002.
504 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3852861004

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch