Die Geburt der Soziologie aus der Logik der Liebe

Ein Sammelband verabschiedet den Mythos Mann

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Mann der Impotenz zu bezichtigen ist zweifellos ein todeswürdiges Vergehen, zumal wenn es die Witwe ist, die ihren verstorbenen Gatten mit derart übler Nachrede verunglimpft - und sei es auch nur zwischen den Zeilen einer Biographie. Diese Meinung vertrat in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zumindest zumindest ein Jurist namens Otto Gradenwitz, der nach der Lektüre von Marianne Webers "Lebensbild", einem Portrait ihres Mannes - wohl scherzhaft, aber doch mit ernsterem Hintergrund - bekannte, er habe nun mehr Verständnis für die Tradition der indischen Witwenverbrennung. Die Anekdote findet sich in einem von Karin Tebben unter dem Titel "Abschied vom Mythos Mann" herausgegebenen Sammelband, in dem der "prinzipiellen Konstrukthaftigkeit gelebter Männlichkeit" anhand von Männlichkeitskonzepten in der Moderne nachgegangen wird.

In der Einleitung beklagt Tebben, der "sich in den letzten zehn Jahren etablierenden 'Männerforschung'" sei wiederholt "unterstellt" worden, dass sie "ungewollt oder gewollt die Rehabilitation von Männern gegenüber feministischer Kritik" betreibe. Diese Behauptung ist tatsächlich verschiedentlich von feministischer Seite aufgestellt worden. Allerdings handelte es sich nicht einfach um eine Unterstellung, vielmehr gelang es wiederholt ohne große Mühe, einen patriarchalischen, frauenfeindlichen und vor allem antifeministischen Impetus verschiedener, der Männerforschung zuzurechnender Publikationen nachzuweisen, so jüngst einmal mehr durch Kornelia Hauser (vgl. literaturkritik.de 10/2001. Damit ist allerdings noch nicht nachgewiesen, dass Männerforschung per se eine Apologie des patriarchalischen Mannes betreibt.

Ein anderer Einwand richtet sich jedoch gegen die Männerforschung überhaupt. Er besagt, dass sie hinter eine Erkenntnis der früheren Frauenforschung zurückfällt, der zufolge sich Geschlecht immer unter Bezugnahme auf das anderer Geschlecht konstituiert beziehungsweise konstruiert wird, was konsequenterweise die Überführung der Frauenforschung in Geschlechterforschung respektive die Gender Studies nach sich zog, welche die Konstruktion und Konstitution von 'Männlichkeit' und 'Weiblichkeit' - und diejenige anderer Geschlechter - unter ebendiesen Vorgaben untersucht. Bettina Mathes, die kürzlich die erste bundesdeutsche Dissertation im Fach Gender Studies vorlegte (vgl. literaturkritik.de 10/2002), moniert an der herkömmlichen, nicht in den Gender Studies integrierten Männerforschung völlig zurecht, dass sie die sozial konstruierte Männlichkeit an das 'biologische' Geschlecht Mann bindet, und somit hinter dem von der Frauenforschung auf ihrem Weg zu den Gender Studies längst abgeschlossenen Paradigmenwechsel zurückbleibt.

Da befremdet es schon sehr, dass Tebben nun ausgerechnet von der Männerforschung erwartet, dass sie der Frauenforschung "einen sinnvollen Weg zu den gender studies ebnet". Die Verwunderung ist umso größer, als sich die Frauenforschung bereits Anfang der 90er Jahre zur Geschlechterforschung entwickelt hat. Betrieben in den 80er Jahren noch vier der fünf einschlägigen Forschungszentren an deutschen Universitäten reine Frauenforschung, so hat sich das Verhältnis seit 1990 umgekehrt: Von zwei Ausnahmen abgesehen weisen sich alle der etwa zwanzig seitdem hinzugekommen Einrichtungen bereits im Namen als Zentren für Geschlechterforschung oder Gender Studies aus.

Matthias Luserke-Jaqui geht in seinem Beitrag in gewisser Weise gar noch über Tebben hinaus, in dem er Walter Hollstein beipflichtet, der die "wachsende Bedeutung der Männerforschung" darin ausmacht, dass "Männer über sich selbst als Männer reflektieren". Genau darin aber, dass die Männerforschung "Männlichkeit als eine Angelegenheit von Männern denkt", sieht Literaturwissenschaftlerin Bettina Mathes eine weitere "grundlegende Problematik" der Männerforschung. Tatsächlich wird dieser Geschlechterseparatismus im vorliegenden Buch nur durch die Herausgeberin durchbrochen. Denn außer ihr kommen allein männliche Autoren zu Wort.

Tebben selbst scheint nicht so genau zwischen Männerforschung, die sich auf die Erforschung von Männern beschränkt, und der im Rahmen der Gender Studies betriebenen geschlechterkontextuellen Untersuchung auch von Männlichkeitskonstruktionen und -konstitutionen zu unterscheiden. Anders lässt es sich zumindest nicht recht erklären, dass sie übergangslos mal von Männerforschung und mal von Erforschung von Männlichkeit(s-Konstruktionen) spricht.

Die Beiträge des Bandes sind in vier Rubriken gegliedert: "Glanz und Elend der Konventionen", "Männliche Ikonen", "Fluchten" und "Fokus 'Künstler'". Untersucht wird etwa die männliche Sozialisation in frühen Werken von Heinrich und Thomas Mann (Wolfgang Popp), die "Ikonologie des nackten Mannes" am Beispiel Tarzans und des Heiligen Sebastian (Horst-Jürgen Gerigk), "der Vampir als Wunschbild und Angsttraum des Mannes" (Matthias Hurst), "die Krise des Mannes als Krise des Juden" in Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter" sowie in literarischen Texten von Ludwig Jacobowski und Ernst Sommer (Andreas Herzog). Ferner widmet sich Walter Erhart den "künstliche[n] Paradiese[n] der Männlichkeit" in Joris-Karl Huysmanns "Gegen den Strich". Ganz überwiegend befassen sich die Autoren mit Männlichkeitsbildern in fiktionalen oder nonfiktionalen Werken von Männern. Die Konstruktion von Männlichkeit in Werken weiblicher Autoren wird hingegen nicht thematisiert, beziehungsweise allenfalls mal mit einer Randbemerkung flüchtig gestreift, so in Luserke-Jaquis Aufsatz über die Literarisierung der "Schule als Ort männlicher Sozialisation", in dem der Autor die näher zu untersuchende Behauptung aufstellt, dass "die Sehnsucht Mann zu werden oder Mann sein zu können" die literarischen männlichen Figuren bei Franziska zu Reventlow präge.

Umrahmt sind die meist literaturwissenschaftlichen Beiträge von einem Essay aus der Feder Peter Springers, der "Ekstase und Kalkül" von Selbstportraits Ludwig Meidners und Vincent van Goghs beleuchtet sowie von einem Aufsatz Joachim Radkaus über "den Mann Weber und die erotische Emergenz der Soziologie". In seinem gut lesbaren und oft amüsanten Beitrag vertritt der Autor die These, dass Max Webers um 1900 jahrelang anhaltende Unfähigkeit zu arbeiten, ja überhaupt auch nur zu lesen, mit seiner "eheliche[n] Impotenz" zusammenhing. Weber scheint dem Autor ein Beispiel dafür zu sein, "dass Gedanken von Gefühlen nicht zu trennen sind". Denn nach seinem "tiefen Sturz in die Liebes- und Berufsunfähigkeit" habe sich bei dem Begründer der Soziologie ab 1904 der "Neugewinn einer ungeheuren wissenschaftlichen Kreativität und einer überraschenden Liebesfähigkeit" bemerkbar gemacht, konstatiert Radkau und schließt daraus, dass die "Ursache" von Webers Impotenz "nicht so sehr in ihm selbst, sondern vor allem in seiner Beziehung zu Marianne lag". Webers "Grunderfahrung" der "Eigenmacht zwischenmenschlicher Beziehung" stehe somit "am Ursprung der Soziologie" und zwar "nicht nur psychologisch, sondern auch logisch". Er habe "damals" - gemeint ist offenbar um 1904/1905 - schon "längst nicht mehr" unter einem "Mangel an sexueller Maskulinität" gelitten. Doch die von Radkau angeführten außerehelichen Liebesbeziehungen Webers begannen erst 1911 zu Mina Tobler, einer Schweizer Pianistin, und etwa 1917 zu Else Jaffé. Jedenfalls weist Radkau die Vorstellung einer "simplen Kausalität" zwischen Denken und Erleben zurück. Man müsse vielmehr "kompliziertere Wechselwirkungen" annehmen. Die "Romantik" der Idee eines "Liebeserlebnis als letzter Grund" sei zwar sehr "verführerisch", doch könne "eine solche Erfahrung" nur wirksam werden, wenn das Denken bereits "in einer Bewegung" sei, "die es für eine solche Erfahrung öffnet". Daher kann man zwar wohl nicht von der Geburt der Soziologie aus der Logik der Liebe reden, dieser aber vielleicht doch die Rolle der Geburtshelferin im Sinne der Sokratischen Maieutik zusprechen, die der Soziologie - gleichsam als Wiedererinnerung gemäß Platons Anamnesis-Lehre - dazu verhalf, das Licht der Welt zu erblicken.

Titelbild

Karin Tebben (Hg.): Abschied vom Mythos Mann. Kulturelle Konzepte der Moderne.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002.
304 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-10: 3525208200

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