Denise und Paul

Noëlle Châtelets Roman über Zweigeschlechtlichkeit

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der neue Roman der Pariser Universitätsdozentin Noëlle Châtelet erzählt die Geschichte eines Menschen, der zweigeschlechtlich geboren ist. Doch die dem Körper innewohnende ungeordnete Geschlechterlandschaft ist zunächst nicht sichtbar. Erst nach und nach zeigen sich körperliche Zeichen, die Verwirrung stiften. Denise, die Hauptfigur, erfährt im Vergleich mit Élise, ihrer kleinen Nichte, dass gleich nicht gleich ist, die Ahnung eines Andersseins manifestiert sich. Die Stimme wird tiefer. Geneviève, die Freundin aus der Schule, steuert das Wort bei: Tu so, als ob du ein Junge wärst. Fußballer zu sein, vor Toilettentüren nicht mehr zögern zu müssen, werden zu sehnsüchtigen Wünschen. Das körperliche Training, vom Vater angeregt und begleitet, unterstützt die innere Annäherung an das andere Geschlecht. Es kommt ein nächtlicher Bote, der die Mädchenlippen bittet zu schweigen und ein Geschenk hinterlässt: "ein Stück von seiner glorreichen Lanze". Die innere und äußere Unordnung nimmt zu, die Menstruation bleibt aus, die Brüste wachsen. Der Weg von Denise, die sich im heimlichen Spiel mit der Freundin Paul nennt (nach dem Roman "Paul et Virginie" von Bernardin de Saint-Pierre), wird mühsamer und schwieriger und ist gekennzeichnet durch Verletzungen und Unterdrückung. Denise-Paul übt sich in einer umfassenden Maskerade, um in der rigiden Ordnung der Geschlechter nicht aufzufallen. Medizinische Behandlungen, später ein Studium, der Zusammenbruch, ein Klinikaufenthalt. Das medizinische Etikett lautet: Maskulinisierungssyndrom. Einzig die Eltern halten zu ihm / ihr, die Freundin Geneviève und der Studienfreund Max. Nach seiner Entlassung sucht Denise-Paul Begegnungen mit anderen Menschen, zeigt seinen Körper her, erzählt seine Geschichte. Die Geliebte Flore spricht seine Wünsche aus, wie ehemals Geneviève. Paul möchte sich die Brüste abnehmen lassen: Er ist fast 40 und träumt vom Ejakulieren. Seine Fingerfertigkeit und sein sensibles Einfühlungsvermögen lassen Frauen- und auch manche Männerherzen höher schlagen, doch bleibt ihm selbst der sexuelle Höhepunkt versagt.

Es ist ein wunderbar leichtes Buch über das tabuisierte Thema ,Intersexualität' (siehe auch den Roman "Mitgift" von Ulrike Draesner) und greift die Diskussion über Körperdiskurse auf. In poetischen und einfühlsamen Bildern beschreibt Châtelet die innere Zerrissenheit eines Menschen, der seinen Körper als Wirrwarr, als unbehauste Landschaft erfährt. Seine Bewohner Denise, das Mädchen der Kindheit, und Paul, der Junge, der von Brustamputation und Ejakulation träumt, können sich nicht miteinander verbinden. Ersatz und Kompensation bietet die Musik, das improvisierende Klavierspiel. An diesem Ort ist ein harmonisches Miteinander von Denise und Paul möglich. Die beiden spielen vierhändig eine selbst komponierte Sonatine. Zumindest hier scheint ein seelischer Höhepunkt möglich: die Verbindung der Bewohner, das harmonische Zusammenspiel der Hände. In dieser Komposition kommt eine Identität zum Ausdruck, die sich trotz aller Zwänge und Stigmatisierungen entwickelt.

Die französische Autorin hat eine feinfühlige Sprache für diese Geschichte gefunden, die mit der künstlich hergestellten Ordnung des Körpers beginnt und endet. Die Sonatine eines komplizierten Lebens.

Titelbild

Noëlle Châtelet: Mit dem Kopf zuerst. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
157 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3462031341

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