Eine opferlose Einheit der Ästhetik?

Bernd Kleimann fasst ästhetische Grundbegriffe zusammen

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bernd Kleimann hat mit seinem Buch "Das ästhetische Weltverhältnis - Eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen" den Versuch einer umfassenden und systematischen Ästhetik vorgelegt, die jene in ihrer Einheit zu verstehen sucht und dabei Schlüsselbegriffe der ästhetischen Diskussion erörtert. Entgegen der Tendenz, die philosophische Ästhetik in ein Nachdenken über Schönheit, Kunst, das ästhetische Urteil oder Erfahrung zerfallen zu lassen, bemüht sich Kleimann um deren Zusammenhang.

Zu seiner Umschreibung werden im diskursiven Durchgang vier Schlüsseldimensionen des Ästhetischen erörtert: ästhetische Erfahrung (1) und der ihr gemäße Phänomenbereich (2), Kritik und Urteilsbildung (3) - Kleimann sagt: ästhetische Kommunikation - und ästhetische Rationalität (4). Sie bilden die vier Pfeiler seiner Schrift. Auf die Statik seiner Theoriearchitektur hat der Autor Wert gelegt und seinen Text klar gegliedert.

Kleimanns theoretisches Projekt ist grundlegend auf den Rezipienten bezogen. Daher ist das Konzept der "Erfahrung" nicht nur quantitativ herausragend und steht auch nicht nur in seiner Gliederung an erster Stelle. Alle weiteren Dimensionen des Ästhetischen bleiben grundlegend an sie zurückgebunden. Die gegenwartsbezogene, sinnliche Versenkung kennzeichne die ästhetische Erfahrung, die sich den sinnlich-sinnhaften Aspekten des Gegenstands um ihrer selbst willen widme. Insbesondere in dieser begrifflichen Entfaltung der ästhetischen Erfahrung ist der Einfluss von Kleimanns Lehrer Martin Seel erkennbar. Und wie in Seels "Kunst der Entzweiung" wird auch in "Das ästhetische Weltverhältnis" die ästhetische Erfahrung aus der Opposition zu vorgefassten Einstellungen bestimmt: Erfahrungen werden dort gemacht, wo vorgefasste Einstellungen erschüttert werden.

Vier "Spielarten" der ästhetischen Erfahrung werden darüber hinaus ausgewiesen, die ihr Konturen verleihen. Drei davon gehen auf Martin Seel zurück (die kontemplative, korresponsive und imaginative), wobei Kleimann zwei davon wiederum "umtauft" und so in leichter Verschiebung der Nuancen von kontemplativer, von ästhetisch-existenzieller und von komprehensiver Erfahrung spricht. Lediglich die vierte "Spielart" geht originär auf Kleimann zurück: "Impressives Ausdruckserleben" nennt er jene Form der ästhetischen Welterschließung, in der "Anmutungsqualitäten" und atmosphärische Merkmale sowie Techniken der Auratisierung erfahren werden sollen. Neben dem esoterischen Beiklang dieser Beschreibung bleibt jedoch auch hier fraglich, inwiefern mit dieser Kategorie tatsächlich relevante Neuerungen gegenüber der kontemplativen, korresponsiven und imaginativen Erfahrung vorgeschlagen werden.

Tatsächlich erkauft Kleimann die Ergänzung der drei Seelschen "Spielarten" durch eine Akzentverschiebung in der Paraphrase der umgetauften "korresponsiven" Erfahrung. Hatte korresponsive Erfahrung bei Martin Seel Aspekte der mimetischen Identifikation eingeschlossen, so schließt Kleimann sie aus seiner ästhetisch-existenziellen Wahrnehmung weitgehend aus. Mit der Akzentverschiebung treten jedoch auch systematische Schwierigkeiten hervor. Ästhetisch-existenziell sei die ästhetische Erfahrung insofern, als der Rezipient wahrgenommene Sachverhalte auf sich und die Frage bezieht, wie zu Leben sei. Schön sei, was dem Rezipienten in Bezug auf das schöne Leben als nützlich erscheint. Die Koppelung der ästhetischen Erfahrung an die ästhetische Existenz, die vor allem an Kleimanns vielfältigen Beispielen sichtbar wird (wenn etwa über den Ernst-Reuter-Platz in Berlin oder über Sportwagen und ihre Besitzer geurteilt wird), eröffnet einen systematischen Fragehorizont, der dann allerdings nicht mehr bearbeitet wird. Kleimann nimmt stillschweigend ethisch-ästhetische Bewertungskriterien in Anspruch, die weder weiter ausgewiesen werden, noch auf Anhieb mit jener Harmonie der Geltungssphären in Einklang zu bringen sind, wie er sie vor allem auf den letzten Seiten seines Buches entfaltet. Dort nämlich geht das Glück der ästhetischen Erfahrung lediglich als "strebensethisches" Gut eine Verknüpfung mit ethischen Perspektiven ein. Die implizite Idee guten Lebens, die nun jedoch offenbar auch in die Erfahrung ästhetischer Objekte hineinspielt, ist nicht weiter thematisch. Kleimanns voluminöser, beinahe enzyklopädischer Durchgang durch die zentralen Begriffe der ästhetischen Diskussion lässt schon im ersten Teil eine Reihe von Fragen offen.

Fragen ergeben sich auch hinsichtlich der Korrespondenzen von ästhetischer Erfahrung und ästhetischen Objekten und somit im Übergang vom ersten zum zweiten Teil des Buches. Hatte Kleimann beispielsweise in seiner Skizze der ästhetischen Erfahrung auf die strukturelle Negativität der ästhetischen Erfahrung verwiesen, die "einen Bruch, eine Ruptur, einen Einschnitt im Handeln und Denken" bewirke, so korrespondiert diese mit keinen grundlegenden Merkmalen ästhetischer Objekte. Kunstobjekte werden als hervorgebrachte, reflexive und kontextuelle Zeichen bestimmt, die "sinnlich-sinnhaft" gehaltvoll seien. Kleimann ist jedoch zurückhaltend, wo er ihnen strukturelle Eigenschaften zuschreiben könnte, die ihre Beziehung zu außerästhetischen Ansprüchen betreffen, ohne dass jene dabei einfach einen heteronomen Zugriff kennzeichnen würden. Er spricht Kunstwerken nicht die Kraft zu, nicht-ästhetische Sinnstrukturen kraft ihres Formgesetzes "strukturell zu negieren". Die strukturelle Negativität der ästhetischen Erfahrung hat auf diese Weise kein Pendant in Sprache und Gestus der ästhetischen Objekte.

Das wiederum betrifft die Idee der ästhetischen Autonomie. Die "Autonomie" des Ästhetischen verbleibt in Kleimanns Konzept abstrakt. Keine spannungsreiche Beziehung zu nicht-ästhetischen Wertigkeiten, die sich in der Form ästhetischer Praxis - einschließlich der Struktur ästhetischer Objekte - zu behaupten hätte, lediglich die Struktur eines spezifischen Zugriffs ist damit benannt, der sich in ein gemütliches Nebeneinander der Rationalitäten fügt. Der Kunsttheorie fehlt auf diese Weise etwas von der Spannung, die die strukturelle Bedeutung ästhetischer Provokationen und die Entwicklungsdynamik des Ästhetischen überhaupt erst verständlich machen würde.

Der Tribut der Vagheit ist dem anspruchsvollen Projekt einer Einheitsästhetik gezollt. Denn unter der Rubrik "ästhetische Phänomene" müssen auch noch Natur- und Alltagsgegenstände Platz finden. Kleimann kann hier zwar differenziert und eingängig zentrale Aspekte ihrer ästhetischen Wirkung auflisten. So gewinnt etwa die Natur als autarker und kontingenter Phänomenbereich, der sich menschlichen Bedürfnissen nichtintentional und indifferent entgegenstellt, durchaus ästhetische Konturen. Für den Zusammenhang der ästhetischen Phänomenbereiche sind diese Bemerkungen jedoch eher zweitrangig, besteht dieser doch allein im Glück des erfahrenden Subjekts an der erfüllten ästhetischen Erfahrung, für die sie sich aus den unterschiedlichsten Gründen - eben ihres "sinnlich-sinnhaften" Gehalts wegen - eignen können. Letztlich sind die Objekte dafür sogar ohne Relevanz, könne doch im Grunde "alles zum Gegenstand der ästhetischen Erfahrung werden". Mindestens ein leichter Unterton von narzisstischem Selbstgenuss ist in dieser erfahrungszentrierten Konzeption des Ästhetischen enthalten.

Die "ästhetische Kommunikation" als Artikulation der ästhetischen Erfahrung - der dritte Teil seines Buches - ist unmittelbar an die ästhetische Erfahrung zurückgebunden. Hier erweist sich der Autor erneut als ein Meister der Nummerierung. Sechs "Formen der ästhetischen Kommunikation" weiß er statt der klassischen drei (Beschreibung, Interpretation und Wertung) zu benennen. Kleimann unterlegt ihnen eine heimliche Teleologie: das Aufsteigen von der "spontanen" zur "reflektierten Wertung". Dazwischen situiert er neben Beschreibung und Interpretation noch Kommentar und Charakterisierung, wobei allerdings unklar bleibt, inwiefern der Kommentar, von dem er zugibt, dass er doch wie die Beschreibung deskriptiv bleibe, und inwiefern die Charakterisierung, von der es doch heißt, sie sei bereits wirkungsorientiert, sich von Beschreibung und Interpretation tatsächlich unterscheiden. Letztlich scheinen jene sechs Formen der ästhetischen Kommunikation bei genauerer Betrachtung lediglich Mischformen jener analytischen - und nach wie vor plausiblen - drei Hauptformen zu sein. Die obligatorische Gedichtinterpretation lässt den Nutzen der nunmehr sechs Dimensionen der ästhetischen Kommunikation nicht deutlicher hervortreten. Hier wirkt Kleimanns Buch additiv, ohne immer auch plausibel machen zu können, für welche strukturellen und paradigmatischen Neuerungen seine Differenzierungen von Nutzen wären. Bloße Ergänzungen können nicht immer auch als Klärungen begriffen werden.

Zudem scheint gerade die ästhetische Kommunikation dermaßen am Modell der Kunstrezeption gewonnen zu sein, dass auch sie die Einheit der von Kleimann vorgestellten Ästhetik infrage stellt. Immerhin ist die Kommentarbedürftigkeit - sofern Kommentar mit Kleimann als Quellenforschung und Kontextualisierung verstanden wird - eines Alpenkamms um einiges geringer als die eines Celan-Gedichtes, und auch seine Interpretation wäre zumindest am Modell der Kunstbetrachtung geschult. Die Einheit des Ästhetischen scheint auch in der Einheit der ästhetischen Kommunikation erschlichen. Und so ähneln sich die systematischen Schwierigkeiten der ersten drei Teile.

Mit dem vierten kommen neue hinzu. Die ästhetische Rationalität wird im letzten Teil als ein zugleich diskursives und aisthetisches Vermögen beschrieben, dem die Aufgabe obliegt, die Intensität ästhetischer Erfahrung zu maximieren. "Wer sich ästhetisch vernünftig verhält", so heißt es, "darf im allgemeinen hoffen, Zahl und Qualität seiner erfüllten ästhetischen Erfahrungen zu steigern." Kleimann möchte in seiner ästhetischen Rationalität allerdings nicht nur die Rationalität der ästhetischen Rezeption einbegriffen wissen, sondern auch die der ästhetischen Produktion. Dennoch hat die ästhetische Rationalität ihr Maß lediglich an der Intensivierung der ästhetischen Erfahrung. So wird der ästhetische Produzent in einer ersten integrativen Bemühung als bloßer Rezipient seiner Werke gedacht, der sich bloß zusätzlich auch praktisch zu ihnen verhalte. Und im Kanon der ästhetischen Regeln, die Kleimann formuliert, beziehen sich fünf von sechs lediglich auf die Rezeption. Allein eine (in Kleimanns Reihenfolge ist es die fünfte), in der er eine Form von "praktischer Vorbereitung" nahe legt, geht auch auf die Fertigkeiten des ästhetischen Produzenten ein, der immerhin im Besitz minimaler technischer Vermögen zu sein habe. Als bloß hinzugefügt scheint die produktive Praxis im Kanon der ästhetischen Regeln dazustehen.

Dass Kleimann darauf verzichtet, die ästhetische Praxis in materialen und (alltags-) praktisch relevanten Spannungsverhältnissen zu situieren, wirkt sich auch auf die Plausibilität seines Regelkanons aus. Dessen didaktisch-kanonischem Gestus, der sich vor der Trivialisierung des ästhetisch angemessenen Verhaltens wenig scheut, lässt sich noch aus anderen Gründen misstrauen. Als Summe von "Aufmerksamkeit" (möglichst "voll" und "uneingeschränkt"), größtmöglicher "Unvoreingenommenheit", guter "Vorbereitung" und "Bereitschaft zur Reflexion" klingen ästhetische Angemessenheit und ästhetisch rationales Verhalten am Ende doch ein wenig zu sehr nach "guter Erziehung".

Alles in allem werden von Gestus und Fortgang seiner Argumentation daher wohl vor allem diejenigen Leser überzeugt werden, die an einer immanenten Kritik und begrifflichen Differenzierungen der theoretischen Erwägungen zur ästhetischen Rationalität (vor allem Martin Seels) interessiert sind. Skeptiker, die weder einer harmonistischen Vernunfttheorie, noch einer verbraucherfreundlichen Ästhetik, die den Konsumenten in den Mittelpunkt rückt, zugeneigt sind, dürften einige Schwierigkeiten mit diesem Buch haben. Vor allem aber werden sie sich wohl kaum davon überzeugen lassen, dass die Einheit der Ästhetik auf einfachem Wege zu haben ist.

Titelbild

Bernd Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. Eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen.
Wilhelm Fink Verlag, München 2002.
382 Seiten, 46,90 EUR.
ISBN-10: 3770536649

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