Die Liebe in Neufundland

Bernice Morgans Geschichten um eine vielfältige Emotion

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Topographie der Liebe" heißt der Band mit Geschichten der neufundländischen Autorin Bernice Morgan, die auf dem deutschsprachigen Buchmarkt bereits mit ihrem Roman "Am Ende des Meeres" bekannt wurde.

Die Figuren in den Geschichten sind auf eine subtile und nicht immer sofort erkennbare Weise miteinander verbunden. Kate wartet auf eine Herz-Operation, ihre Nichte erinnert sich bei einem Besuch an die erste Begegnung zwischen ihrer Tante und deren späterem Mann, wir erfahren die Lebensgeschichte von Celie, die in einer psychiatrischen Klinik lebt, und etwas aus dem Leben ihrer Tochter Floss. Celies Sohn Kenny wird vom Drogisten Derm Hogan beim Diebstahl erwischt, dessen Nichte Marion Fifield erschießt Jahre später ihren Vater, was wiederum Lenora zufällig im Fernsehen sieht. Besonderes Kennzeichen dieser Figuren ist ihre Beziehung zur Stadt St. John's, am südlichen Zipfel von Neufundland gelegen, bei klarem Wetter soll es möglich sein, bis nach Irland zu schauen. Eine weitere Gemeinsamkeit der Lebensfragmente sind die in die einzelnen Episoden eingewebten Erinnerungen, meist ausgelöst durch eine kurze Begegnung, ein Gefühl, einen Geruch. Alle Hauptfiguren verlieren sich immer wieder in frühere Erlebnisse, so zum Beispiel Margo Stein, die sich, als ihr kleiner Sohn Matthew nicht nach Hause kommt und gesucht (und gefunden) wird, ein schreckliches Erlebnis aus ihrer Kindheit wieder vergegenwärtigt, das sie lange Jahre verdrängt hatte.

Zwischen diesen lockeren Verknüpfungen, basierend auf Freundschaft, Liebe und Familienbanden, die sich über ein ganzes Jahrhundert erstrecken, tauchen merkwürdig ins Leere laufende Figuren und Geschichten auf. Von einer Frau, die frühmorgens am Flughafen eine Familie beobachtet, oder Sarah Norris, deren Innenwelt vor, während und nach einer Lyriklesung dargelegt wird. Einsamkeit wird spürbar, die Schattenseiten der Liebe, Alleinsein, Verlassenwerden. Oder auch Todesnähe, wie bei Kate.

Erzählt werden die Geschichten in einem eher lakonischen, sachlichen Ton, es fehlen poetische Stimmungsbilder. Die bestimmenden Farben sind Cremeweiß, Rosarot, dunkles Grün, heiße Sommer und kalte Winter mit hochaufgetürmten Schneemassen, dazwischen das Meer, leuchtend blau. Hinter dieser kühlen Fassade tauchen die Emotionen auf, Sehnsüchte nach Erfüllung, Wünsche nach Liebe, die Suche nach der eigenen Vergangenheit (wie bei Celie) und all die großen und kleinen Abenteuer und Erlebnisse, die ein Leben, und sei es nach außen noch so unscheinbar, erzählbar machen, weil jeder Mensch seine ganz eigene Geschichte hat.

Bei der formalen Betrachtung fällt auf, dass der innere Zusammenschluss fehlt, die Komposition der Geschichten ist zu locker geraten. Nirgends findet sich ein Hinweis auf die Gattung des Buches, es gibt kein Inhaltsverzeichnis (obwohl über zehn Geschichten erzählt werden, die in zwei größere Blöcke eingeteilt sind). Von einem Roman lässt sich nicht sprechen, auch nicht von Kurzgeschichten, eher von Erzählungen. Die subtilen figuralen Vernetzungen irritieren dabei und heben die formale Distanz wieder auf, so dass sich das Einzelne wieder in ein Ganzes einfügt, wenn auch mit Brüchen.

Titelbild

Bernice Morgan: Topographie der Liebe. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Hanna Neves.
dtv Verlag, München 2002.
295 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-10: 3423243058

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