Ich fühle, dass meine Wurzeln hier sind

Ein Bildband über Ernst Jünger in Oberschwaben

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Jünger und der Verlag E. S. Mittler & Sohn haben eine gemeinsame Geschichte. 1922 erschienen dort der zentrale Essay "Der Kampf als inneres Erlebnis" sowie die zweite, veränderte Ausgabe des Kriegstagebuchs "In Stahlgewittern". Zwei weitere Bücher folgten 1925 ("Das Wäldchen 125") und 1942 ("Gärten und Straßen"). Jetzt hat der Verlag einen opulenten Bildband über Jüngers Leben in Oberschwaben veröffentlicht. Als Herausgeberin zeichnet Gisela Linder verantwortlich, die bereits 1990 eine schmale Jünger-Auswahl ("Über Kunst und Künstler") vorgelegt hat.

Die überwiegend unveröffentlichten 144 Schwarz-weiß-Aufnahmen namhafter Fotografen wie Herlinde Koelbl, Stefan Moses und Paul Swiridoff halten den späten Jünger im Bild fest. Zitate aus dem Œuvre, aus Reden und Notizen flankieren die Bilder. Die Korrelationen von Text und Bild sind inszeniert, wie bei einem Jünger-Selbstportrait vor dem Spiegel. Im entsprechenden Zitat heißt es: "Es gibt eine Scheu, in den Spiegel zu blicken, eine Scheu auch vor dem eigenen Lichtbild und der eigenen Stimme im Radio. Ähnlich ist es mit der Kritik als Spiegel, der uns vorgehalten wird."

Jünger hat sich häufig zur Fotografie geäußert und schon früh Bildbände selber herausgegeben, in denen er seine Haltung zur neuen Technik entwickelte. Bände wie "Die Unvergessenen" (1928), "Das Antlitz des Weltkrieges" (1930) oder "Der gefährliche Augenblick. Eine Sammlung von Bildern und Berichten" (1931) sind bekannte Beispiele dafür. Film und Fotografie haben den Autor fasziniert, weil sie die Möglichkeit böten, Personen, die man aus dem Gedächtnis verloren hat, quasi "wieder auferstehen zu lassen".

Jünger steht der Fotografie andererseits auch skeptisch gegenüber, was deutlich wird, als er 1986 - zum zweiten Mal in seinem Leben - den Halleyschen Kometen beobachtet. Er ist enttäuscht über den schweiflos-diffusen Himmelskörper: "Die meisten Photos, die ich gesehen habe, wenigstens die von der Erde aus aufgenommenen, trügen, denn wer lange genug belichtet, kann jedem Gestirn einen Schweif von beliebiger Länge anhängen."

Der Bildband lebt von Standardsituationen: Jünger am Schreibtisch, Jünger im Wilflinger Garten (dort entstand 1963 auch das Spiegel-Bild), Jünger im Kreise von Pour le mérite-Trägern (1963), Jünger zusammen mit Ernst von Salomon und seinem Bibliographen Hans Peter des Coudres (1961), mit Martin Heidegger und Werner Heisenberg (1953), mit Eugène Ionesco (1986) und Hermann Lenz (1996), mit Albert Hofmann (1972), mit Friedrich Dürrenmatt, Wolfgang Dufner und Golo Mann (1990), mit Vicco von Bülow und Hermann Prey (1994). Zwei Bildhauer, Gerold Jäggle und Serge Mangin, werden mit ihrem Modell bei der Arbeit gezeigt, eine Aufnahme von 1960 dokumentiert eine Feier im Wilfinger Löwen, der Dorfwirtschaft, bei der der Bürgermeister dem Autor die Ehrenbürgerschaft verleiht. Auf dem Wappen der Gemeinde steht zu lesen: "Rein im Sang - treu im Wort", und den Autor, der von sich gesagt hat, dass er unmusikalisch sei, wird's gefreut haben.

Je älter der Jubilar, desto hochrangiger die Besucher: 1985 Bundeskanzler Doktor Helmut Kohl und Frankreichs Staatspräsident François Mitterand, 1995 Felipe Gonzáles, der spanische Ministerpräsident, und Fritz Teufel, der baden-württembergische Ministerpräsident, sowie Roman Herzog, der deutsche Bundespräsident. Ein besonderes Ereignis stellten die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie dar; ein Jahr später überreicht Lothar Späth, 1985 baden-württembergischer Ministerpräsident, dem späten Demokraten im Stuttgarter Neuen Schloss das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband.

Die Fotos präsentieren einen eleganten, bis ins hohe Alter gut aussehenden Mann, sie zeigen ihn bei festlichen Anlässen, mit den Honoratioren, im Garten, auf der Käferjagd, in Wilflingen - wo er zunächst (1950) im großzügigen Ambiente des stauffenbergschen Schlosses wohnte und später im gegenüber liegenden ehemaligen Forsthaus. Das Interieur des Hauses ist geprägt von Jüngers Sammelleidenschaft: Die große Bibliothek, die Reptilienecke, die Sanduhren auf dem Bücherbord im Arbeitszimmer, in einem großen Korb Muscheln und Versteinerungen, Bilder der Familie und ehemaliger Weggefährten in großer Zahl, Spazierstöcke in einer Vase. Man hat einen Lebenskünster vor sich, einen Genussmenschen, einen, der das Leben kennt und es auskostet, darin unterstützt von seinen Mäzenen, die es ihm so angenehm wie möglich eingerichtet haben. "Sie sehen", sagt Jünger in einem Gespräch mit seinen Übersetzern Antonio Gnoli und Franco Volpi, dass ich es vorziehe, eher in einem Dorf als in einer Großstadt zu wohnen. Ich habe beide Erfahrungen gemacht: Ich habe in Berlin und Paris gelebt, zwei Hauptstädten von unvergänglichem Zauber. Um aber Ruhe und die für die geistige Tätigkeit nötige Konzentration zu haben, ist das natürliche Umfeld des Landes günstiger. Ich lebe deshalb seit fast einem halben Jahrhundert in Wilflingen und fühle, daß meine Wurzeln hier sind."

Die Bilder sprechen auch von der oft beschworenen Unnahbarkeit Jüngers, selbst wenn die Bildlegenden das Gegenteil behaupten: "Zwei Freunde in vertrautem Gespräch: Ernst Jünger, der Autor, Wilfried Steuer, der Kommunalpolitiker, in den achtziger Jahren. Viele suchten Rat bei Ernst Jünger: klar, maßvoll, weise, oft aphoristisch knapp waren seine Antworten. Er war kompetenter Gesprächspartner auf den unterschiedlichsten Gebieten. Bei ihm wußte man immer, woran man war." Man sieht sie förmlich vor sich, die Ratsuchenden, wie sie aphoristisch knapp beraten werden. Wilfried Steuer, Kommunalpolitiker: "Ernst, soll ich die Gemeindesteuer anheben?" - Jünger: "Klar, aber maßvoll."

Solche Legenden treiben die Harmonie etwas zu weit und provozieren ein spätes Gedicht Robert Gernhardts, dessen letzte Strophe lautet: "Wir wollen 'Friede', er besteht auf 'Scheiden' / Wir wollen 'Freude', er beharrt auf 'Schneiden' / Wir wollen 'Eierkuchen', er will 'rattattattattat'!"

Titelbild

Ernst Jünger: Die Jahrzehnte in Oberschwaben. Eine Dokumentation in Bildern.
Herausgegeben von Gisela Linder.
Verlag E. S. Mittler & Sohn, Hamburg/Berlin/Bonn 2002.
210 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-10: 3813207382
ISBN-13: 9783813207385

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