Irritierende Ambivalenzen

Brigitte Kronauer über ein Phänomen der Wirklichkeitserfahrung

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch enthält Gelegenheitstexte, Essays und Artikel über Bücher und Autoren, ein literarisches Tagebuch und Reden. Brigitte Kronauer erregte zuletzt mit ihrem Roman "Teufelsbrück" (2000) großes Aufsehen, nicht nur in den Feuilletons. Nun legt sie einen Band mit Essays und Skizzen vor. Die Texte und Reden sind zwischen 1992 und 2001 entstanden und wurden während dieser Zeit, teils in Zeitungen, teils in Sammelbänden, publiziert. In ihrem Vorwort beschreibt Kronauer, warum sie die Texte unter einem Titel zusammenführt und was das Verbindende der Texte ist: Es geht um die Zweideutigkeit der Dinge, um die "Ambivalenz der Bezüge jenseits aller infantil hermetischen Zweiweltenteilung". Diese Ambivalenz ist ihr der Ausdruck für "jedes Verhältnis der Wirklichkeit", also für Welterfahrung. Kronauer sieht diese Perspektive in "einer stets ruhelosen Wahrheit" gegeben und argumentiert gegen eine starre Eindimensionalität, die sich in Polaritäten erschöpft. Die Texte spiegeln dieses Interesse an Zweideutigkeiten, an irritierenden Ambivalenzen wider, der innere Zusammenhang der Essays bedingt deren Auswahl.

Es gibt Gelegenheitstexte, Essays und Artikel über Bücher und Autoren, ein literarisches Tagebuch und Reden. Vor allem die Gelegenheitstexte sind thematisch sehr gemischt, es geht um Marlon Brando, um Mariendarstellungen, die deutsche Sprache, Konnotationen des Begriffs "Heimat" und immer wieder um Landschaften. Besondere Faszination erlebt Kronauer beim Anblick der Berge, der Eiger-Nordwand, wobei der Naturschutz eine nicht geringe Rolle spielt. Daneben formuliert sie ihre Kritik an der herrschenden Wissenschaftsgläubigkeit und an Zeitgeist-Phänomenen. Die Beobachtungen des Alltagslebens, wie sie sich auch in den Romanen Kronauers finden, weisen auf übergeordnete Themen hin, z. B. bei der Betrachtung der "Kultur des Banalen". Im zweiten Teil beschäftigt sich die Autorin mit Autoren wie Joseph Conrad, Herman Melville, Friedrich Rückert und Franz Grillparzer, Hugo von Hofmannsthal, aber auch Gerard Manley, Vladimir Nabokov und sogar mit einer Autorin, Lou Andreas-Salomé. Auch hier stehen zweideutige Figuren, Geschichten oder Orte im Zentrum der Annäherung.

Unter dem Titel "Ein literarisches Tagebuch" sind Kolumnen versammelt, die zwischen Mai 1997 und April 1998 für die Zeitung "Weltwoche" entstanden sind. Es geht erneut um Alltagsbeobachtungen, an denen sich Ambiguitäten zeigen lassen, egal, ob es sich um Birnenkuchen oder Tiere oder Frauen und Männer handelt. Der letzte Teil offeriert Reden und Vorträge, in denen es wiederum um Ambivalenzen geht, in der Literatur, im Medium Fernsehen, beim Phänomen 'Autor' und schließlich beim 'Geld'.

Die Essays, Kolumnen, Reden und Artikel entbehren nicht eines heiter stimmenden Untertons. Die Autorin bezeugt und bewahrt durch ihre der Vielfältigkeit verpflichtete Perspektive auf Themen, Alltagsgegenstände, Literarisches und Menschliches die Vieldeutigkeit der Welt, der seit über zehn Jahren ihr Interesse gilt, neben dem Romanschreiben, versteht sich.

Titelbild

Brigitte Kronauer: Zweideutigkeit. Essays und Skizzen.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
320 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3608933344

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