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Die Standardausgabe des "Brockhaus in 15 Bänden" ist fast unbemerkt in die Jahre gekommen

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren demonstriert der Verlag F. A. Brockhaus eindrucksvoll, wie hoch die Messlatte bei den Lexika in Sachen Buchästhetik liegt. Der "Brockhaus in fünf Bänden" (vgl. literaturkritik.de 7/2001) ist in edles Blau-Silber gewandet, die Numerierung der einzelnen Bände steigt Zahl für Zahl über der Mittellinie zwischen den beiden Farbfeldern auf. Den "Brockhaus in fünfzehn Bänden" kann der Wissensdurstige wahlweise mit einer Einbandgestaltung von James Rizzi oder als Andy-Warhol-Künstlerausgabe (vgl. literaturkritik.de 12/2001) ordern. Nur die große "Enzyklopädie" (vgl. literaturkritik.de 10/2001) ist in Würde gealtert und kommt wie eh und je in schlichtem Rot daher.

Inzwischen wurden nämlich auch die fünfzehn Bände der Standardausgabe einer gründlichen Verjüngungskur unterzogen: Der Verlagsname auf dunkelblauem Grund erscheint von Band zu Band in veränderter Farbgebung, der ziehharmonikaartig zusammen gestauchte und anschließend wieder auseinander gezogene Reihentitel bildet zusammen mit den sich vergrößernden und zur Mitte des Werks abfallenden Bandnummern eine riesige Ellipse. Verpackungskünste, die den Bibliophilen nicht unbedingt in ehrfürchtiges Staunen versetzen, im Bücherregal aber vielleicht für einige Abwechselung sorgen. Wie immer man dieses Facelifting auch beurteilt: Die wahre Schönheit kommt von innen.

In der Tat legt sich die eben noch jugendlich-glatte Rezensentenstirn angesichts des lexikalischen Innenlebens in tiefe Falten. Die bibliografischen Angaben weisen den 15-Bänder vollmundig als "2., aktualisierte Auflage 2002" aus. Der Leser, so der erste Eindruck, hält also ein brandneues Lexikon in seinen Händen. Leider verwandelt sich das vordergründige Versprechen hinterrücks in eine Fehlanzeige. Denn das Nachschlagewerk wurde bereits im Frühjahr 1999 aktualisiert und durchgesehen, allerdings nicht in Form der jetzigen, dunkelblauen, sondern in Form der früheren, noch mit einem weißen Schutzumschlag bewehrten Standardausgabe. Dieser liegt eine wiederum betagtere 1., bereits im Jahre des Herrn 1997 erschienene Auflage zugrunde.

Dem Leser wird einiges an detektivischem Gespür abverlangt, bis er nach umständlicher Recherche endlich herausfindet, dass Brockhaus das Erscheinungsdatum seiner Lexika nicht an der Auflage (Stand der lexikalischen Information), sondern an der Ausgabe (Einband des Lexikons) fest macht. Dies wäre für sich genommen so schlimm noch nicht, würde nicht auch noch die für die bibliografische Erfassung so wichtige CIP-Einheitsaufnahme die wahre Entstehungszeit des Lexikons beredt verschweigen: "Der Titelsatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich."

Auch wenn man sich tunlichst hüten sollte, Wasser auf die Mühlen eines Informationszeitalters geben, das jedes Buch sogleich mit dem Stempel "Leicht verderblich" versieht und es dem Leser auf diese Weise madig macht, muss sich der fünfzehnbändige Brockhaus an seiner vorgeblichen Aktualität messen lassen.

Trotz der modernisierten Seitengestaltung und der gut lesbaren Typografie liegt auf etlichen Einträgen der Staub der Zeit. So etwa die Tabelle mit den Sendern des "Privatfernsehens" vom August 1997, deren Marktanteile sich infolge des knallharten Wettbewerbs der vergangenen fünf Jahre inzwischen merklich verschoben haben. Das gleiche gilt für die Literaturangaben. Der älteste Titel zum Thema "Psychoanalyse" stammt von 1976, der jüngste wiederum von 1997. Und da nicht nur die Literatur zur "Physik", sondern auch die tabellarisch aufbereitete Geschichte dieser Wissenschaft zum nämlichen Zeitpunkt abbricht, liegt es auf der Hand, dass hier seit dem Erscheinen der 1. Auflage überhaupt nicht mehr nachgebessert wurde. Dem neuesten "Wissensstand" entspricht das Lexikon ironischerweise nur, wenn man diese Imponiervokabel in ihrer ganzen, ihrer doppeldeutigen Wahrheit versteht.

Neuartig für ein Lexikon dieser Größenordnung - die fünfzehn Bände umfassen ca. 140.000 Artikel, über 400 Tabellen und mehr als 15.000 Karten und Abbildungen - sind die über 1.000 "Infokästen", in denen Brockhaus interessantes, mitunter jedoch zur bloß witzigen oder kuriosen Randinformation tendierendes Zusatzwissen oder Zitate präsentiert. Wie die Einlassungen zum Kamelienbaum in "Pillnitz", der, "heute 8,60 m hoch, imposante 11 m im Durchmesser, [...] bis zu 35 000 Blüten trägt". Der, zunächst nur in einem einfachen Kübel beheimatet, im Winter mit einem "ofenbeheizten Holzhäuschen umgeben" und seit 1992 in ein "13 m hohes, aufklappbares, auf Schienen fahrbares, elegantes Gehäuse aus Glas und Stahl, das ihn seither per Klimacomputer [...] schützt", verfrachtet wurde.

Es wäre sicherlich zu kurz gegriffen, solches Wissen einfach nur als überflüssig abzutun. Mit den Infokästen scheint zugleich das Ende der lexikanischen Nüchternheit zugunsten einer unterhaltsameren Wissensvermittlung angebrochen zu sein, worüber sich sich im Zeitalter von Günther Jauch und Friedrich Schwanitz freilich kein Mensch mehr zu verwundern braucht. Überschrift des besagten Beitrags: "Was könnte einen Baum veranlassen, sich ein Eigenheim errichten zu lassen?"

Titelbild

Bibliografisches Institut Brockhaus (Hg.): Der Brockhaus in 15 Bänden. Standardausgabe. 2., aktualisierte Auflage 2002.
Brockhaus Verlag, Mannheim 2002.
7200 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3765328022

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