Eine monumentale Exposition

Der Einstieg in Kyongni Paks Romanzyklus "Land"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über ein Vierteljahrhundert hinweg, von den 1960ern bis in die 90er Jahre, schrieb die koreanische Schriftstellerin Kyongni Park an ihrem Romanzyklus "Land". In sechzehn Bänden durchlebt ein vielhundertköpfiges Personal die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, die zur Grundlage des modernen Korea wurde, die doch zunächst vor allem als Zerstörung und Leid erlebt werden musste: Sie brachte den Zerfall der überkommenen dynastischen und bäuerlichen Ordnung, brachte Kolonialisierung, Krieg und Bürgerkrieg und gleichzeitig den Beginn einer Befreiung von traditionalen Beschränkungen. Die ersten anderthalb dieser Bände können als in sich weitgehend abgeschlossene Handlungseinheit gelesen werden und liegen nun in deutscher Übersetzung vor.

Das Interesse an den Büchern ist zunächst ein stoffliches - nicht nur für Koreanisten, sondern für jene, die sich für freiwillige oder unfreiwillige Modernisierungsprozesse interessieren. Gleichzeitig ist das Interesse ein literarisches. Kaum je wurde in der neuesten westlichen Literatur der Versuch unternommen, in der Romanform nicht allein subjektives Erleben als das vorgeblich die Historie erst Konstituierendes zu gestalten; Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" steht isoliert. Geschichte über das Episodische hinaus zu fassen scheint in jüngster Zeit überflüssig oder zumindest nicht Sache von Literatur; stets ist hinzusehen, wo diese Schranke durchbrochen wird.

Pak lässt die Handlung 1897 beginnen, in einem kleinen Dorf im äußersten Süden des damals noch nicht geteilten Korea. Noch wirkt die Herrschaft stabil, die Grundbesitzerfamilie allmächtig. Dass in der fernen Hauptstadt Seoul Russen und Japaner um Einfluss und künftige Kontrolle des Landes kämpfen, dass dort Reformer den Staat zu modernen Standards erheben oder durch diese Standards erst einer künftigen Kolonialmacht auszuliefern bereit sind, dies alles gelangt nicht klar ins Bewusstsein der bäuerlichen Bevölkerung. Noch gilt die überkommene Verpflichtung gegenüber der traditionalen Herrschaft und gelten Rebellionen, mögen sie auch schon eine gewisse Faszination ausstrahlen, als anrüchig.

Dass diese Welt brüchig ist, zeigt sich freilich im Detail. Der Gutsherr Tschhö Tschhisu vermag nicht den Knecht zu töten, der mit seiner Nebenfrau in die Berge floh, und ist zudem zeugungsunfähig; Sinnbild kommenden Endes in einer Ordnung, in der allein männlicher Nachwuchs die Kontinuität familiärer Herrschaft sicherte. Den Jäger Kang, zu Beginn eine fast mythische Gestalt, kauft er sich als Begleiter zur erfolglosen Menschenjagd in den Bergen mit dem Versprechen, ihm ein modernes Gewehr zu geben; diese Waffe allein steht im Roman für die neuzeitliche Technik.

Heruntergekommener Adel verlegt sich derweil besitzgierig auf die gemeinsame Intrige mit einer unbedingt aufstiegswilligen Dienerin. Selten ist zu Beginn des Zyklus die Ebene einer klaren politischen Fragestellung erreicht. Sobald die Großmächte sich für das noch weitgehend abgeschlossene Land interessierten, war dennoch die Zerstörung des Überkommenen nur eine Frage der Zeit. Dies weiß im Roman neben dem machtbewussten Skeptiker Tschhö, der nur aus Pragmatismus alte Werte vertritt, allenfalls sein Verwandter Tscho, der voller Pläne zu Reformen und für ihn dringendstem Gelderwerb, gekleidet nach neuester westlicher Art, in das Dorf eindringt und dort Befremden auslöst: bei den Gebildeten, die Tscho, der als Dolmetscher arbeitet, für einen Agenten der Fremden halten, und bei den Bauern, die einem Adligen, der sie wie seinesgleichen behandelt, nicht trauen.

Dem Gut Tschhös gegenüber liegt das Dorf, voll fast durchweg ärmlicher Bauern und Tagelöhner, die auf ein gutes Erntejahr hoffen müssen, um nicht Hunger zu leiden. Die Dorfgesellschaft ist eine Gesellschaft von Frauen. Pak zeigt die Männer einzeln, den unglücklich verliebten Jongi wie den schäbigen Tschilsong, der sich tölpelhaft für die Aufstiegsintrige einspannen lässt. Auch wird die Macht der Männer deutlich, deren Recht etwa, ihre Frauen zu schlagen, unbestritten besteht - doch die Kommunikation im Dorf, die sozialen Wertungen und damit das Urteil über sozialen Einschluss oder Ausschluss, liegt bei den Frauen. Dabei idealisiert Pak ihre Figuren, deren Leid sie deutlich zeigt, nicht. Neid und Hass finden sich auch, vielleicht sogar besonders unter den Unterdrückten. Ob die Frauen ein Verhalten billigen oder sanktionieren, folgt einer Logik des Emotionalen, nicht einer der Sache. Möglich ist weitherziges Verständnis ebenso wie die Zusammenrottung, die mit Lynchjustiz droht. Pak, voller Skepsis gegen das, was kommen wird, verklärt nicht die Vergangenheit, sondern sie zeigt sowohl die materiellen Probleme wie die Phänomene der Unterdrückung zwischen den Klassen wie innerhalb der Klassen.

Ungewöhnlich ist ihre Figurenzeichnung. Zuerst wirkt sie unangemessen; eine auktoriale Erzählinstanz, voll psychologischen Wissens, scheint sich Figuren zu schaffen, die wie vormoderne Schwarz-Weiß-Typen sich in einen modernen Roman verirrt haben. Doch wird allmählich der Eindruck einer Ungleichzeitigkeit korrigiert, verliert sich die allzu eindeutige Wertung und gewinnen die Figuren an Komplexität. Dieser Zugewinn wirkt wie eine Korrektur des allzu eindeutigen Urteils, das die Figuren im Roman meist zu fällen bereit sind. Die offenkundige Sympathie für die Gegner einer zynischen Modernisierung, die den Roman durchzieht, ist damit zwar nicht dementiert, aber mit einem vielschichtigeren Problemfeld verbunden. Explizite Ablehnung trifft nur diejenigen, die innerlich haltlos und voller Aufstiegsegoismus dem Neuen nachrennen. Wer dagegen mit Kraft und innerer Konsequenz einen Weg geht, welcher es auch sei, kann auf einen positiven Auftritt hoffen - der gegen die Normen hoffende Jongi wie der skeptische Reaktionär Tschhisu -, und ebenso wer, wie zuletzt der Jäger Kang, Erbarmen zeigt.

Nirgends ein Ausweg, kein Heilsweg nach vorne, keiner zurück und kein Bleiben im Gegenwärtigen - Paks Roman passt in die neueste Globalisierung, die selbst die in der kolonialistischen Verwüstung mühsam genug erfundenen Traditionen wieder beseitigt. Bevor dies Bild sich enthüllt, muss freilich gerade der nichtkoreanische Leser ein Etliches an Hindernissen überwinden. Viele Seiten vergehen, bevor er darauf hoffen darf, sich in der zeitlich und örtlich fernen Dorfwelt zurechtzufinden. Das Normsystem der noch konfuzianisch geprägten Gesellschaft dürfte zunächst so befremdlich wirken wie das Personal mit den so ähnlichen Namen zuerst unübersichtlich; für Folgebände dürfte ein vollständigeres Personenverzeichnis wie auch eine Aufstellung der gerade für die traditionale koreanische Gesellschaft wichtigen Verwandschaftsverhältnisse nützlich sein.

Diese Schwierigkeiten müssen und sollten überwunden werden, bevor ein bedeutender Weltentwurf zugänglich wird. Der Verlag und die Übersetzerin Helga Picht hoffen auf eine Leserresonanz, die es ermöglicht, eine deutsche Ausgabe des gesamten Zyklus fortzuführen. Dieser Erfolg ist dem ambitionierten Projekt zu wünschen.

Titelbild

Pak Kyongni: Land (Toji) Band 1. Eine koreanische Familiensaga.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Helga Picht.
Secolo Verlag, 2001.
573 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3929979527

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