Unzeitgemäßes

Zu Günter de Bruyns Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Anspielung des Titels dieser sieben knappen Essays auf Nietzsches berühmte "Unzeitgemäße Betrachtungen" kann nur gewollt sein. Wer aber das will, der setzt sich zwangsläufig Vergleichen aus, von denen er von vornherein hätte wissen können, dass sie ihm nicht nur zum Vorteil gereichen würden, da sie neben manchem vielleicht durchaus Kommensurablem auch das Inkommensurable und Unangemessene zu Tage fördern. Dort, bei Nietzsche, die Fundamental- und Radikalkritik an der rationalistischen Wissens- und Erkenntniskultur des 19. Jahrhunderts, hier, bei de Bruyn, die eben 55 weiträumig bedruckten Seiten mit ihrer keineswegs revolutionären, zum großen Teil aus anderweitigen öffentlichen Diskussionen schon bekannten Kritik an einer Reihe in der Tat höchst bedenklicher gesellschaftlicher Auswüchse der Nachwendezeit. Dort das bramarbasierende neu erstandene Deutsche Reich von 1871, hier das keineswegs auftrumpfende, eher zurückhaltende wiedervereinigte Deutschland nach 1990. Dort der gerade 30-jährige draufgängerische, zornige Philosoph aus dem Geist des Ungeheuren, hier der 75-jährige Bilanzzieher, der, ganz seinem Naturell entsprechend, eher behutsam seine Pfeile abschießt. Solche Gegenüberstellungen, man merkt es schon, erzeugen vor allem eine Schieflage. Und so lässt sich nicht anders sagen, als dass de Bruyn bei der Titelgebung seines Büchleins schlecht beraten war. Das ist schade um so mehr, als de Bruyn zur Überheblichkeit, sich mit Göttern zu messen so ganz und gar nicht veranlagt, im Gegenteil von sympathischster Bescheidenheit und Redlichkeit, feinstem Gespür für Realitäten und Proportionen ist und seine sieben Essays, auch dort, wo es tatsächlich eine gewisse Parallelität der beschriebenen Phänomene gibt, viel besser ohne als mit dem Hinweis auf Nietzsche zu ihrem Recht kommen.

Sie sind ausnahmslos von unbestechlicher stilistischer Luzidität. Und sie lancieren ihre Kritik, aller Nähe zu manchen Auffassungen unterschiedlicher Parteien und gesellschaftlicher Gruppierungen zum Trotz, doch von einer souveränen, über der Parteipolitik stehenden Warte aus. De Bruyn reibt sich da etwa entschieden an dem Irrtum der Desavouierung alles Nationalen und dem dadurch verkrüppelten Vermögen der Deutschen, sich über ihre Wiedervereinigung uneingeschränkt freuen zu können. Denn keineswegs hält er die Rolle der Nationen für ausgespielt. Vielmehr habe man zu erkennen, dass der nationale Zusammenhalt sich in der deutschen Geschichte der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, von der Integration der Vertriebenen über die Erhaltung der deutschen Staatsbürgerschaft zu Zeiten der Teilung bis zur Wiedervereinigung, sehr wohl bewährt habe. Für selbstbetrügerisch nicht nur hält er die Missachtung der nationalen Abkunft und die Annahme, es könne das Ablegen der uns prägenden Kultur gelingen, sondern für gefährlich obendrein, da die Versuchung nahe liegt, in einer Anwandlung von umgekehrtem Chauvinismus mit der Verachtung des eigenen Nationalen auch das Nationale anderer Länder zu verachten und diese "an unserem, diesmal nicht nationalistischen, sondern die Nationen mißachtenden Wesen genesen" lassen zu wollen.

Mit der dritten Betrachtung, die tatsächlich eine gewisse Nähe zu Nietzsches Kritik am geistlosen Monumentalismus des Bismarck-Reiches aufweist, trägt auch De Bruyn seinen Stein zur Endlosdebatte um das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas bei. Als zu spät, qua Zielgruppe zu eingeschränkt, am falschen Ort, zu groß, zu abstrakt und wegen allem zusammen letztlich als vermutlich wirkungslos verurteilt er das Unternehmen, das aus purer Hilflosigkeit eine monströse Auffälligkeit mit defizitärer Aussagekraft gebar, keinen Ort des Erinnerns, des Trauerns und des Gedenkens, vielmehr einen, dem es statt ums Trauern um Trauerdemonstration nur zu gehen scheint. Unter den Slogan von der "Verwilderung auf hohem technischen Niveau" subsumiert De Bruyn in einer weiteren Betrachtung gewisse kulturelle Verfallserscheinungen, wie sie sich an Schönheitsempfinden und Würde, an Anstand und Höflichkeit, insbesondere aber an der Sprache eskalierend vollziehen. Nicht wechselseitige kulturelle Beeinflussung, eher schon pure Aggression und Gleichgültigkeit, Unvermögen, die Spezifik der Sprache zu erkennen, sieht er in der Durchwucherung des Deutschen mit Anglizismen am Werk. Und auch hier, wie schon bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalen, die Warnung, es könne die Missachtung der eigenen Sprache leicht auch zu der anderer führen. De Bruyns Hoffnung freilich, es möchte sich hier um eine vorübergehende "Modetorheit" handeln und letztlich sich, wie schon häufiger in der Geschichte, die "Selbstreinigungskraft" des Deutschen durchsetzen, diese Hoffnung, die sich aus der historischen Erfahrung der Deutschen mit der französischen Sprache herleitet, dürfte diesmal, wo wir mitten in einem damit ganz unvergleichbaren Wandlungsprozess von nationalen und internationalen Gesellschaften zu transnational-glokalen Gesellschaften stehen, wohl kaum aufgehen.

Durchaus an die Wurzel des Übels greifen De Bruyns Überlegungen zu den rechtsextremistischen, ausländerfeindlichen Exzessen der Nachwendezeit, namentlich denen in den neuen Bundesländern. Den simplen Konzepten von Gesetzesänderung und verstärkter Strafandrohung misstraut der Autor hochgradig. Nicht zu bekämpfen sei auf diesem Wege, was seinen Ursprung wohl weniger in rassistischen und nationalistischen Einflüssen hat als vielmehr in Ängsten und Enttäuschungen der Nachwendezeit, in der Hilflosigkeit von Lehrern und Eltern nach dem Zusammenbruch des Wertekanons der DDR und in einer daraus resultierenden Gleichgültigkeit gegenüber ethischen Fragen. Demgegenüber wird hier auf wirksame Integrationsprogramme für Ausländer gesetzt und auf die Macht des gegenseitigen Kennenlernens. Denn nicht trotz des verschwindend geringen Ausländeranteils in den östlichen Bundesländern, so heißt es, sondern gerade deswegen habe es dort zu den gewalttätigen Ausschreitungen kommen können. Dabei unterschlägt De Bruyn allerdings den Anteil, den die DDR an dem Phänomen hat, in deren autoritärem, klassifikatorischem Gesellschaftsgefüge der Nationalsozialismus zwar als ein für allemal überwunden deklariert wurde, jedoch, aus der öffentlichen Sichtbarkeit per Dekret verbannt, außerhalb des Scheinwerferlichts um so unbehelligter als der kleine alltägliche Faschismus fortwuchern konnte. Christoph Hein hat eben dies in seinem Roman "Horns Ende" glänzend dargestellt.

Bei aller Souveränität, mit der all diese und noch andere Gedanken, wie etwa die zum Verhältnis von Geschichte und Einzelschicksal oder den Ursachen des heutigen Interesses an Preußen, von De Bruyn vorgebracht werden, bleibt am Ende des Büchleins eine Frage: Warum eigentlich müssen sie allesamt immer wieder mit dem denn doch leicht koketten Hinweis auf die Perspektive des Alters verknüpft werden? Denn erstens lässt Unzeitgemäßes, wie Nietzsche ja demonstrierte, sich durchaus auch in sehr viel jüngeren Jahren erkennen und formulieren. Und zweitens bleibt da die Frage, ob das, was sich als unzeitgemäß ankündigt, es auch wirklich ist. Jedenfalls scheint sicher, dass De Bruyns Kritik von sehr vielen geteilt wird. Das aber ist keine Sache einfach des Alters, sondern eine der menschlichen Reife, der Vernunft, des historischen Wissens und der Erfahrung, die alle im Alter zwar zunehmen können, es leider nur längst nicht notwendig auch tun und umgekehrt auch bei Jüngeren Gott sei Dank anzutreffen sind.

Titelbild

Günter de Bruyn: Unzeitgemäßes. Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
60 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3100096339

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