Arm dran und Arm ab

"Alle Familien sind verkorkst", bestätigt Douglas Coupland

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Spaceshuttle-Start ist eine saubere Sache, insofern kein defekter Dichtungsring am linken Booster das Raumfahrzeug auch bis in den Raum vorstoßen lässt. Der Orbiter kommt fast antiseptisch aus dem Hangar, sein Treibsatz zur Überwindung der Erdbeschleunigung kombiniert sich aus Wasserstoff und Sauerstoff, die Besatzung besteht aus der hochgesunden, vollbelastbaren und datengedrillt-intellektuellen Elite einer Elite. Die Familien der ins All Geschossenen stellt man sich ähnlich vor. Mit einem stolzen und kariesfreien Lächeln verfolgen sie die millimetergenaue Bahn der Ihren in die Schwerelosigkeit, beobachten den entschwindenden Punkt dank hervorragender Sehkraft bis in die Stratosphäre.

Doch auch White trash kann Astronauten hervorbringen, wie Douglas Coupland in seinem neuesten Roman darlegt. Die 1994 im Erstling des Autors beschriebene "Generation X" definierte man damals als die erste Generation die wisse, dass es ihr einmal nicht besser gehen werde als ihren Eltern. Heute, acht Jahre später, sind die Slacker und Grunger aus dem Nirvana erwacht und Mitte bis Ende 20. Heute ist ihnen bewusst, dass das, was sie damals - dem Lebensgefühl angemessen - ahnten und kultivierten, eingetreten ist. Es ist sogar noch schlimmer geworden: mittlerweile geht es auch ihren Eltern scheiße.

Janet, Mutter und geschiedene Mrs. Drummond, hat AIDS. Sie infizierte sich durch ein blutverschmiertes Projektil, das die vom HI-Virus befallene Leber ihres Sohnes Wade durchschlug, bevor es ihn sie eindrang. Der Schütze war der Vater und jetzige Ex-Ehemann Ted und er zielte eigentlich auf seine Frau, vor die sich der Erstgeborene schützend warf. Die beiden Getroffenen sind kurzfristig mit dem Leben davongekommen. Ted hat dafür jetzt Leberkrebs. Ted und Janets zweiter Sohn Bryan, ist zwar gesund, doch gaunert er sich wie sein Bruder durchs Leben und hat zu allem Überfluss eine Freundin namens Shw, die das gemeinsame Ungeborene verkaufen will. Das sind die Drummonds, die zwar körperlich vollständig intakt ihre Leben begannen, doch im Laufe der Zeit in den Sand setzten. Einziger Lichtblick ist Sarah. Sarah wird als Crewmitglied einer Shuttle-Mission demnächst in eine erdnahe Umlaufbahn gehievt werden, um dort ihre komplexen physikalischen und chemischen Versuche abzuspulen, und das alles mit nur einem Arm. Contergan verstümmelte sie in Janets Gebärmutter.

Douglas Coupland sagte in einem Gespräch über sein Buch: "Wir richten den meisten Schaden an, wenn wir versuchen, hilfsbereit zu sein und das Richtige zu tun." Nach dieser Devise lässt der Autor die männlichen Drummonds handeln, die weibliche Seite kommt ein bisschen besser davon. Janet und Sarah halten zusammen, was auseinanderstrebt, was im Begriff ist, nur noch schlimmer und noch auswegloser zu werden.

Neben bereits Genanntem werden die Familienmitglieder mit diversen weiteren Um-, Zu- und Gegenständen gegängelt: dem Abschiedsbrief eines Prinzen an seine verunglückte Mutter; einem snobistischen, europäischen Pharmaerben und Milliardär mit der Fähigkeit zur Menschenerschaffung; einem rabiat-perversen Kinderkäuferpaar; dem Internet als Treffpunkt für brutalstmöglich Verzweifelte; miesen Gangstern; einem kommenden Sexexperiment in der Schwerelosigkeit; Floridas Sümpfen; Depression und Rezession; Ameisen usw. Mit all dem - und doch meist mit sich - müssen sich die Drummonds herumschlagen und prügeln. Die Reihung skurriler Szenen, bei deren Lektüre man sich fragt, was denn jetzt noch arges passieren kann - und es passiert wirklich immer noch ärgeres -, kleidet Coupland in seine Version von traurigem Witz, bei dem aber schon ab und an die Frage offen bleibt, ob es nun komisch oder unfreiwillig komisch ist. Der Versuch, eine Mitleid erzeugende Melancholie freundlicher Verlierer zu erschaffen, birgt die Gefahr, dass die angestrebten, liebenswerten Looser schlicht zu dämlichen Vollidioten werden. Manchmal möchte man deswegen "Stopp" rufen, "Stopp, jetzt reichts, Halt, das geht vielleicht doch ein wenig zu weit". Nein, das Ende hätte nicht so kitschig sein müssen.

So ist "Alle Familien sind verkorkst" wie der Countdown zu einem routinemäßigen Lift-off. Unerbittlich strebt die Zeit dem Punkt X zu, an dem endlich der große Knall stattfindet. Die Rakete steht in der Rampe, wird betankt, beladen, die Besatzung steigt ein und macht sich bereit, alles geschieht nach einem organisierten und doch wundersamen Verfahren, und die, die auf dem Boden bleiben müssen, die Beobachter, die Leser, sehen sich das Ganze interessiert an. Man weiß, dass etwas kommen wird, es muss etwas kommen. Dann heißt es "Zero", es geht los, es rumpelt und röhrt, das Warten hat ein Ende, die Spannung löst sich. Zurück bleibt ein leeres Stahlgerüst um das mächtige Schwaden Dampf und heißer Luft wabern. Beides verzieht sich schnell. Was war ist vergessen - wie der Roman, denn nicht jeder Roman ist eine Challenger.

Titelbild

Douglas Coupland: Alle Familien sind verkorkst. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Tina Hohl.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2002.
336 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3455011764

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